Thorsten Krämer

Das Nilpferd

Was ihr über mich zu wissen meint, ist nur das, was ihr über mich zu wissen meint. Es hat nichts mit mir zu tun.

Der Aphorismus ist mein Habitat. Ich fülle jeden Satz aus.

Ich folge dem Lauf meiner Gedanken, bis er mich in die Irre führt. Dann wird aus dem Lauf ein Gang, ein Treiben, ein Schwimmen, Trudeln und Kreiseln, und aus den Gedanken ein großer Haufen Grünfutter.

Aus meinen Ohren wächst ein entzücktes Händeklatschen. Die Abfolge von Ursache und Wirkung ist immer schon amphibischer Natur.

Ich kann, wenn es sein muss, auf einem Grashalm balancieren. Aber ich führe keine Kunststücke vor.

Der Glanz meiner Haut ist ein Monument der Feuchte. Der Schlamm ist Erde, die ihren Horizont erweitert hat.

Wir müssen über mein Maul sprechen, mein riesiges Maul: Es ist der Kurzschluss meiner Existenz. Es ist der Mond, der sich öffnet und schließt. Es ist ein Widerschein, eine Ablenkung. Mein riesiges Maul ist nichts anderes als eine Abstellfläche für meine Zähne, meine riesigen Zähne.

Wenn mein Hunger zu groß wird, schwebt er davon. Ich schaue ihm hinterher, bis er nicht mehr zu sehen ist.

Luft und Wasser sind keine Gegensätze, sogar die Fische atmen. Ich bin ein Gegensatz.

Jede meiner Bewegungen ist eine Frage, eine Antwort und ein Lachen. Jedes Lachen ist die Negation der Bewegungslosigkeit. Jede Negation bewegt sich anders. Wenn ich müde bin, stelle ich selten Fragen. Wenn ich schlafe, gebe ich seltsame Antworten.

Das Riesige ist keine eigene Kategorie. Es ist nur das enthemmte Kleine.

Bei Regen bin ich intelligent. Der Rhythmus der Tropfen, die mich treffen, diktiert mir eine neue Erkenntnis. Ich stampfe mit den Füßen, um sie nicht zu vergessen.

Die Konsequenz meide ich konsequent, sie ist mein einziger natürlicher Feind. Aber manchmal schauen wir uns gemeinsam die Sterne an.

Alles, was ihr nicht über mich wisst, ist wahr.

(Ein Klick aufs Cover führt zur vertonten Version.)

9. Juni 2017 07:06










Christine Kappe

Die Applausordnung der Narzissen

Schauspieler rutschen auf dem Rücken
durch einen Kreis von Häusern und blasen
Papierkügelchen durch die Schornsteine,
die sich auf dem Dach zu
Blumen entfalten („Breitet sich das Papier
denn schnell genug aus?“, fragt eine junge Frau)
irgendwo in der Pampas, wo riesige Türme stehen
Mühlen mit abgebrochenen Flügeln,
wo Frauen mit Gasflammenkronen regieren
und eine aus lauter Dreiecken gestaltete
Verkehrsinsel
auf der viele jener gelben leichtzerstörbaren Blumen wachsen,
deren Namen ich immer wieder vergesse.
Wenn meine Vermutung stimmt,
haben sie diese Krankheit mit den fehlenden Spiegelzellen,
wollen zieren statt zehren, lieben statt leben
und dass ihnen jemand den Kopf spaltet
jemand ohne Kopf, ein Engel oder eine Muse
oder ein Kuss

(Antwort auf „Rasenschimmer weist ihr den Weg“ von Christian Lorenz Müller)

10. Juni 2017 09:55










Tobias Schoofs

MELDUNG

der dichter will leben bitte
deaktivieren sie ihren adblocker
oder schließen sie einfach die
augen diese zeilen kommen

mit lichtgeschwindigkeit auf
sie zu glauben sie denn das sei
umsonst? was keiner bezahlt
sei folgerichtig verschwiegen

10. Juni 2017 12:59










Karin Fellner

Protuberanzen

/

mit offenen Pulsen gehst: Girlande aus Lichtschädeln,

an Zerspelltem vorbei, schwingende Kinder und Beutel,

durch das Klingeln gehst, verschlissen, nicht

abschließbar

/

auf Fluchtwegen kommst du vor, unter anderen,

sehenden Auges die glanzvollen Blutungen,

jüngst, heißt es, hat oder wird

man Dokumente beenden

/

durch die Strahlung, das ist: ins Verflochtene

gehst, durch knackende Hundezähne,

sagst, im Wissen der Löschung:

alle Wesen sind schön

/

jetzt steht die Ameise auf,

entflammt diese Spezies

10. Juni 2017 13:17










Andreas Louis Seyerlein

~

15.06 UTC – Über einen langen Flur eines Schiffes wandernd begegneten mir zwei Männer, ein junger und ein etwas älterer Mann. Wie sie näher kamen und ihre Stimmen in meinen Ohren deshalb lauter wurden, hörte ich, dass sie sich über ein Büro unterhielten, in welches einer der beiden Männer vor wenigen Tagen erst eingezogen war. Es ging in dem Gespräch außerdem um Möbel. Die Männer waren sich, so mein Eindruck, nicht ganz einig gewesen. Sie diskutierten, ein lautes, lachendes, ein lebendiges Gespräch, weshalb ich umdrehte und den Männern in dezentem Abstand folgte, ich wollte Ihnen heimlich zuhören, was vermutlich nicht ganz höflich gewesen war. Ich glaube, die zwei Männer bemerkten mich glücklicherweise nicht. Warum ist dein neues Büro so leer? wollte der eine Mann, er war wirklich noch sehr jung gewesen, von dem anderen, dem älteren Mann wissen. Das ist so, antwortete der alte Mann dem jungen Mann, hör zu, ich will unabhängig leben von meinem Büro, ich will nicht mit ihm verwachsen sein. Wenn ich von meinem Büro einmal getrennt werden sollte, ist der Schmerz dann nicht so groß, wenn ich aber mit meinem Büro verwachsen sein würde, könnte man mir Schmerzen zufügen, man könnte sagen, Sie dürfen bleiben, wenn sie folgsam sind, man könnte mich erpressen, verstehst Du, man könnte mich mit leichter Hand fertigmachen. Deshalb sind in meinem Büro nur ein Stuhl und ein Tisch und Papiere, ein Obstkorb, eine besondere Tafel, die beschriftet werden kann und wieder gereinigt von Farbe, eine Zeichnung weiterhin, die einen Mann zeigt, der sein Fahrrad zerlegte, außerdem sind da noch, eine Kaffeetasse, drei Stühle für Gäste, ein kleiner Kühlschrank, ein Regal mit 176 Büchern, ein Teppich, welchen ich auf einer Reise nach Marokko entdeckte, eine Stehlampe, die sich gleich hinter meinem Schreibtisch befindet, ein wunderbar warmes Licht strömt von dort, eine zweite Lampe auf dem Schreibtisch, die im Winter zusätzlich Licht spenden wird, ein kleines Sofa, Bleistifte in einem Bleistiftgefäß, ein Telefon, zwei Kakteen, fünf Orchideen auf der Fensterbank, ein Käfig mit einem Zeisigpärchen, drei Schreibmaschinen, eine Fotografie, die meine Geliebte zeigt wie sie lächelt, ist das nicht wunderbar. – stop

15.38 UTC – Seit einigen Wochen verfüge ich über eine weitere Schreibmaschine. Das ist so, weil ich sie mir gekauft habe. Leicht ist sie und flach. Wenn meine neue Schreibmaschine in der Hitze der Tag- oder Abendluft atmet, um sich zu kühlen, ist von ihren Atemgeräuschen nichts zu hören. Selbst dann, wenn ich ein Ohr an ihr Gehäuse lege: Stille. Ich könnte sie unter meinem Hemd verbergen, weil sie so flach ist, niemand würde sie bemerken. Einmal notierte ich: Wenn das so weiter geht mit dem Leichterwerden der Schreibmaschinen, werde ich bald Schreibwerke zur Verfügung haben, die von geringerer Schwere sind als die Papiere, die ich mit ihren Zeichen fülle. – Wie viel genau wiegt eigentlich dieses elektrische Wort, das gerade vor mir auf dem Bildschirm erscheint? S i e r r a. Wie viele Male wird das Wort S i e r r a heute oder morgen auf weiteren Bildschirmen aufgerufen werrden, wie lange Zeit jeweils sichtbar sein? Es ist denkbar, dass das Wort S i e r r a , das in Europa vor wenigen Minuten verzeichnet wurde, schwerer wiegt, sobald es in Australien auf einem Bildschirm erscheint, als das selbe Wort, wenn wir es in Europa lesen, 1 Millionstel Gramm schwerer, sagen wir, um 1 Millionstel Gramm Kohle schwerer und um den Bruchteil einer Sekunde. – stop

> particles

12. Juni 2017 16:43










Julia Trompeter

häl

längs hat der tag am horizont sich hingeblättert
& langsam dichtgemacht & in der weite fern gesehen
wie der wald. der mond. mal wieder nichts ergattert. nie.
bloß. langgezogen zogen drohnt die stimme noch.
seit ewig zeiten nichts gehört dabei. gar schon verlassen
lassen drohnt. son echo echo alter nächte an mein ohr.
in mir denkt etwas nach & etwas will hinaus. jedoch
schwebt schlau ein schatten schatten. kriegerisch davor.

12. Juni 2017 22:04










Mirko Bonné

Nachha

Nach der Lesung grenzenloser Jubel

Nach der Lesung
grenzenloser Jubel.
Bamberg. Juni 2017.

*

15. Juni 2017 10:24










Karin Fellner

Woman, caught in a fever

you climb up to the nest and grow
out of your dark plumage.

This is your muff amidst
Nordic cuisine. Your

t(ang)le and your ang(st)el
live here in your handpalm.

See how all the windows warp
when you crack your knuckles.

The mustardy light still carries
things like lace:
a confused honey bee—
Confucian clouds—
then your mother with
arms rowing in a
dusky pink sari—then
a BMW 1500
with a rusty underbody.

You are a dust mouse lying
in an empty tub. Mummy-dry. So:
go out like a little candle. A spontaneous
dust formation in an operetta.
A wave pattern would be left behind.
Something broken, thin as a fuse.
A God particle or supper for
a silverfish—

(Poem translated by Zane Johnson, USA, 2017,
who is finishing his Bachelor’s at the University of Colorado Denver and plans on studying in Germany in the coming year through a Fulbright.)

——–

Frau, ins Fieber verstrickt
steigst du ins Nest und wächst
dich aus zum dunklen Gefieder.

Dies ist dein Muff inmitten
nordischer Kost. Hier wohnen
dein Angerl und dein Engstel
in der Handpalme. Schau,
wenn du knöchelknackst,
dehnen sich alle Fenster.

Schon trägt das Senflicht Dinge
wie an Schnüren vorüber:
eine konfuse Hummel –
konfuzianische Wolken –
dann deine Mutter mit
rudernden Armen im
altrosa Sari – dann
ein BMW 1500
mit rostigem Unterboden.

Ein Zusel bist du, zu legen
in eine leere Wanne. Mumientrocken. So
ausgehn wiara Keazal. In einer Operetka
spontaner Staubwerdung.
Ein Wedeln bliebe zurück.
Ein Dreck, so dünn wie Zündschnur.
Ein Higgsteil oder Fresschen für
einen Zuckergast –

(Karin Fellner, 2014)

19. Juni 2017 08:52










Konstantin Ames

Mit der Zeit wird alles feil. Nur


Jan Wagner hat sein Teil.

20. Juni 2017 16:07










Christian Lorenz Müller

BECKEN

Die Verklärung der Glieder
in der tiefen Gumpe,
Allgegenwart Gottes
als aufgeschreckte Forelle:
So taufst du dich mit Kälte,
nach dreimaligem Tauchen
hastest du hinauf auf die Felsen
wo die Sonne wärmt,
wo du dich zitternd
neu geboren weißt.

22. Juni 2017 11:08










Hendrik Rost

Alles, manches, das meiste,

was von Schwärmern und Spöttern über Büchner gesagt wird, ist falsch oder abgestanden. Jetzt ist
aber eine wunderbare Gelegenheit, Jan Wagner zu gratulieren: Alles, alles Gute
und viel Inspiration weiterhin!

Ich las so vor mich hin und fand schnell zwei sehr schöne „Versuche“.

Einmal über Mücken:

als hätten sich alle buchstaben
auf einmal aus der zeitung gelöst
und stünden als schwarm in der luft

bringen von all den schlechten nachrichten
keine, dürftige musen, dürre …

Ein anderes Mal über Seife:

wurde weniger wie fast alles

und alle sitzen am tisch:
mondloser abend, duftende hände.

23. Juni 2017 15:55










Christian Lorenz Müller

27. REGENTONNENVARIATION

Schäumender Bierkrug
nach dem Regen. Ein Prosit
auf den Preisträger.

23. Juni 2017 16:41










Konstantin Ames

Date mit dem datierten silentstyle in der rille

lernte ich täglich von kleingeschriebenen händen in lobbies

lernte ich nicht von Lessing («Ich») und andern verslaufsformen um/gang
führen wir doch den adel (z.b. in den haifisch) wieder ein, die preise sind nahezu alle am boden «Ich» gratuliert den meinungen zu ihrer befreiung ung ung usw oder willkommen im streit, wer da nicht rosten will [Ich nehm jetzt ne Aspirin, und dann gehts mir schon wieder gut.] als lustiges rotgardistenblut

24. Juni 2017 19:04










Christian Lorenz Müller

DIE WICHTIGSTEN PERSÖNLICHKEITEN ALLER ZEITEN

(Russische Umfrage vom 26.06.2017)

1.
Josef Wissarionowitsch Stalin
Bankräuber, Diktator, Massenmörder

2.
Wladimir Wladimirowitsch Putin
KGB-Agent, Judokämpfer, Autokrat
Alexander Sergejewitsch Puschkin
Dichter, Elegiker, Duellant

3.
Wladimir Ilitsch Lenin
Politischer Theoretiker, Revolutionär, Despot

27. Juni 2017 09:36










Konstantin Ames

Immer wenn du denkst, da geht noch was,


Verdirbt dir ein ästhetizistischer Indianerkiller den Spaß.

27. Juni 2017 11:12










Karin Fellner

Go deeper and beyond

to the beardless Alexander in a blast furnace
who would raise his brow here once more
conqueror of grinning cuttlefish

to Leonardo with snorkel and screwdriver
lurking on enemy ships outside the harbor
surrounded by hunchbacked fishermen

past the leather-covered caisson
whose divers bleed gently from the ears

to the automatic eels, to the oilheads, chlorine gas and
all men pressed into the sheath of war.

On bare feet only
in the garden of waves
in the sprawling spray
step and let
the log sink:                Silence


(Poem translated by Zane Johnson, USA, 2017,
who is finishing his Bachelor’s at the University of Colorado Denver and plans on studying in Germany in the coming year through a Fulbright.)

—————————————

Tiefer gehn und vorüber

am bartlosen Alexander in einer Glocke, der auch
hier einmal die Stirn erheben wollte, Erobrer
von grinsenden Sepien

an Leonardo mit Schnorchel und Schraubenbohrer
der draußen im Hafen auf Feindschiffe lauert, von
buckligen Anglern umringt

vorbei auch am ledergedeckten Senkkasten
dessen Paddler sanft aus den Ohren bluten

am automatischen Aal, an Ölköpfen, Chlorgasen und
all den ins Futteral des Krieges gepressten Mannen.

Auf bloßen Füßen nur
in den Garten der Brandung
in die wuchernde Gischt
treten und das Log
sinken lassen:                         Silence.

(Karin Fellner, 2014)

28. Juni 2017 07:01










Hendrik Rost

Apnoe in der Stimme

Statt wie sonst morgens in der Offenbarung des Johannes zu schmökern
und zu lesen, wie das Lamm das Buch mit den sieben Siegeln öffnete,
woraufhin im Himmel Stille eintrat,
etwa eine halbe Stunde lang –
Die Schar derer, die mit dem Siegel gekennzeichnet sind, ist groß
ging ich ans Regal und nahm mir ein Jahrbuch mit Gedichten
und öffnete es an beliebiger Stelle:
„Die Stimme deiner Spezies weckt dich und you drown.“
Es ist unnötig, sich abzufinden mit der üblichen Gefangenschaft.

28. Juni 2017 10:07










Hans Thill

Als die Finger noch Schwerter waren

Alle meine Wörter sind weiblich außer Brad Pitt,
der ein amputierter Fuß von Ibn Al-Farid ist.
Erzähl mir was vom Meer, von seinen Innereien,
vom Doppelgänger des Flusses Jabbok,
der in Edenkoben versandete, freigelegt wurde
und erneut versandete. Erzähl mir was von Al-Nabegha,
seiner Wanduhr! Mein Haus ist eine Mühle aus Glas
und Lavendel, der Zipfel eines Traums einer Rose
direkt vom Berg Quasi, der zur Hälfte aus Saqr (Falke)
und zur Hälfte aus Qasr (Rietburg) besteht.
Mit langen Schritten geht die Dummheit zwischen
Bäumen umher und knetet sich einen Nebel.
Ach, ein Schuh ist gestorben, ach, die Lagerplätze
sind verlassen, die Asche noch warm, man kann
sie essen, aber man sollte nicht, sagt Malek,
der Strassenräuber. Eine Tür, die sich schließt,
ist noch lange keine Apfelin. Was wäre die Bibel,
wenn nicht große Mengen Obst auf einem kleinen
Stück Stoff, das der Nichtraucherengel
über den Schultern trägt, wenn er nachts wie zwanzig
Katzen durchs Rebland tobt? Was wären Tom
und Jerry, wenn nicht der rechte und der linke Fuß
einer Rakete? Alle meine Wörter sind Sandalen,
eher zum Hauen als zum Kauen, eher zum Stechen,
es sei denn der leere rote Mantel käme plötzlich zur Tür
herein, in der Hand das Brot der Schönheit aus
einem Text von Al-Muttanabi – sein Name ist
ein Storch aus einem anderen Traum, in dem es
genial von der Wand tickt als wäre eine Frau
im Schrank

Begrüssungsgedicht für
Lina Atfah, Aref Hamza, Mohammad Al-Matroud, Rasha Omran, Lina Tibi, Raed Wahesh,
Dorothea Grünzweig, Brigitte Oleschinski, Christoph Peters, Joachim Sartorius, Julia Trompeter, Jan Wagner
Tropenkoben, 28. 6. 2017

29. Juni 2017 09:45