Mirko Bonné

Neueste Maßnahmen

Erneut nach Erich Fried

Die Faulen werden wiederbelebt.
Fleißig genug ist die Welt!

Die Hässlichen werden wiederbelebt.
Die Welt ist schön genug!

Die Narren werden wiederbelebt.
Weise genug ist die Welt!

Die Kranken werden wiederbelebt.
Die Welt ist gesund genug!

Die Traurigen werden wiederbelebt.
Lustig genug ist die Welt!

Die Alten werden wiederbelebt.
Die Welt ist jung genug!

Die Feinde werden wiederbelebt.
Freundlich genug ist die Welt!

Die Bösen werden wiederbelebt.
Die Welt ist gut genug!

*

1. Juni 2021 01:45










Konstantin Ames

Famos an diesem Gedicht ist, dass es, wie jedes, lebenslang ohne Titel auskommt

4. Juni 2021 11:29










Christine Kappe

Marry

An der Tramperstelle traf ich heut Marry. Im Dorf erzählt man sich, sie sei verrückt geworden, aber nachdem, was ich mit ihr erlebt habe, glaube ich das Gegenteil.
Es war der 27. Dezember 1987. Marry trug ganz viele Klamotten übereinander und über all dem noch einen gelben Mantel mit Kapuze. Das sah wild aus, aber war vernünftig bei dem Schneegestöber.
Eine Ewigkeit kam kein Auto, ich wurde nervös.
Mich mit Marry zu unterhalten schaffte ich irgendwie nicht.
Plötzlich zog sie eine Tüte aus ihrer Tasche und hielt sie mir vor die Nase:
Eine Instant-Suppe, auf der Rückseite war ein Comic. Marry zwinkerte mir zu. Die Comic-Figuren waren unzweifelhaft Marry und ich. Und die Geschichte war genau das, was wir gerade erlebten, und es endete damit, dass wir uns in den Schnee setzten und die Suppe aßen.
Das nächste Auto, was kam, nahm uns mit. Ich sah aus dem Rückfenster den Schriftzug der Suppenfirma am Himmel. Wir befanden uns in einem Werbespot, ich merkte es erst jetzt. Doch Marry hatte es schon vorher gewusst, legte den Arm um mich und lachte.

9. Juni 2021 10:08










Mirko Bonné

Der Sommer mit Strindberg

Als ich Strindberg las, waren alle Bäume
anders. Umschlossen von glasigem Licht,
wirkte jeder beschützt. Er verwahrte sich.
Nachmittage lang lief ich mit den Hunden
über die Felder und an Waldrändern hin,
Hohlwege, durch die ich träumend ging,
und immer Überraschung: Wolkenbruch;
offene Scheune; verschwundenes Moos.
Die Hunde waren beide schwarz, liebten
einander, rangelten, lösten jedes Rätsel
verschieden. Sie kannten alle stärkeren
Äste auswendig, und was sie rochen, ja
war ein Zeichen: Minutenlang sahen sie
gedankenversunken in die Baumkronen.
Strindberg rief einmal einem Kritiker zu:
„Warten Sie, bis ich mit Ihnen abrechne
in meinem nächsten Stück!“ Das hab ich
nicht vergessen können. Die Kastanien,
dachte ich, sie sind Strindbergkastanien,
aus einem glasigen Licht, das dir etwas
zu sagen hat. Nur was? Dieselbe Frage
stand oft den zwei Rumtreibern im Blick.
Einmal, es war ein schwüler Mittag Mitte
August, jagte uns ein Schwarm Bremsen
die Felderraine entlang, und da segelten
aus dem abgestorbenen Zaubergezweig
einer Eiche dunkel wie drei Pfeilschatten
drei Schwalben, und sie fingen alle weg.
Alles kann geschehen, alles ist möglich
und wahrscheinlich, schreibt Strindberg,
Personen spalten sich, verdoppeln sich,
vertreten einander, sie gehen in Luft auf,
verdichten sich, zerfließen und fügen sich
erneut zusammen. In Ein Traumspiel ruft
Indras Tochter wieder und wieder, es sei
schade um die Menschen, und das ist es,
was ich seit dem Sommer mit Strindberg
glaube: Es ist um uns Menschen schade.

*

20. Juni 2021 17:56










Hendrik Rost

Luna mentitur

Ich geb mir 100 Sekunden zum Nachdenken.
Nach 50 fällt mir etwas ein. Nach 80 krieg
ich Hunger. 90: Ich werd erwachsen. Noch
10 Sekunden bis zum Vergessen.

25. Juni 2021 10:03