Christian Lorenz Müller

EHRUNG IN GEGENWART EINES RECHENS

Das Buchenblatt, das bei der Arbeit im Garten
mir auf die Brust fiel,
roter Orden, der sich für zwei Sekunden
über meinen Herzmuskel heftete:
Was für ein ausgezeichneter Tag
um allein in der Gegenwart
des Rechens glücklich zu sein,
des stählernen Gefährten, der stündlich
durch tausende roter Medaillen zinkt.

Herrlich ist’s, von den Schatten zu wissen
und in der Sonne zu sein,
mit einer freien Brust
an der kein Orden kleben bleibt.

2. November 2021 08:52










Christine Kappe

Die Prinzessin von Flaubert

In der Bahn vom Kronsberg nachhaus rollte
die Prinzessin von Flaubert
mit ihrem Kinderwagen über Füße und Drachen zum Fahrer
um ihm während der Fahrt zu sagen, dass der Fahrkartenautomat kaputt sei
Ich versuchte einzulenken – schon wegen unserer Drachen –
dass sie es doch lieber an der nächsten Haltestelle tun solle
um den Fahrer nicht zu stören
Eine ältere Frau rastete daraufhin völlig aus
Und ein junger Mann entpuppte sich als zukünftiger Straßenbahnfahrer
simulierte alle Handgriffe bis zur Perfektion
wir mussten ihn immerzu anschauen
Er hätte wahrscheinlich das Steuer übernehmen können
Dann hätte der richtige Fahrer sich um die Prinzessin von Flaubert kümmern können
Was bildete sie sich ein, auf ihre Goldkrone und die im Kinderwagen kaltgewordenen Zeitungen

4. November 2021 23:23










Christian Lorenz Müller

URLAUB IN ASUNCIÓN

In Paraguay, sagt sie, habe man mit einem Anti-Wurmmittel gute
Erfahrungen gemacht. Es liege einem Vorsorgepaket bei, das auch
Aspirin und andere Medikamente enthalte und kostenlos an die
gesamte Bevölkerung verteilt werde. Bei uns hingegen: Nichts als
Zwang! Der Staat verkomme zur Lobby der Pharmaindustrie.

„Und wer stellt dein Wurmmittel her?“, frage ich gereizt. „Ein
Kräuterweiblein aus Paraguay? Aspirin stammt ja auch nicht
aus biologischer Landwirtschaft.“

Sie schluckt, bedeckt ihre Augen mit der rechten Hand und bittet
mich, sich nicht über sie lustig zu machen. Sie suche ja nur nach
Alternativen, das müsse doch noch erlaubt sein. Wer nicht
geimpft sei, habe es ohnehin schon so schwer.

Ich aber kann nicht an mich halten: „Wie wär’s denn mit Urlaub
in Asunción, bis alles vorbei ist? Oder gleich in Rio, wo es sowieso
nur eine leichte Grippe gibt?“

„Ich darf ja nicht mal mehr ins Flugzeug.“ Sie nimmt ihre Hand
von den Augen, die sich mit Tränen gefüllt haben. „Überall setzten sie mir zu.
In der Arbeit ist es kaum noch auszuhalten. Und jetzt auch noch du!“
Weinend läuft sie aus demWohnzimmer und schlägt die Tür hinter sich zu.

Ich weiß, was jetzt kommt: Sie sperrt sich ein, sie sitzt in
ängstigendem Dunkel auf der Toilette und taucht ihr Gesicht in
die weiße Corona ihres Handys, tröstend leuchtender Mond in
einem Universum finsterer Zusammenhänge, und schaut Videos,
in denen selbsternannte Experten über glückliche Länder wie
Paraguay berichten.

Später werde ich mich für meine harsche Art entschuldigen.
Wir werden uns vergeblich vornehmen, nicht mehr darüber
zu reden, wir, ein Paar, das zwanzig Jahre lang alles miteinander
geteilt hat, alles.

9. November 2021 12:23










Mirko Bonné

Marie

Zur Erinnerung an Marie T. Martin (1982 – 2021). Mein Foto zeigt Marie im Januar 2015 am Nord-Ostsee-Kanal in Rendsburg gemeinsam mit Tom Schulz.

10. November 2021 23:14










Hans Thill

Zettel

27. November 2021 13:19