Christian Lorenz Müller

INVASION

Panzerketten zer-
reißen das Papier, zermal-
men alle Wörter.

Explosionen
aus Angst, Trotz und Traurigkeit,
Krater in der Brust.

Verstümmelte, tot-
geschossene Metaphern,
Drucker-Tintenrot

Die Marschordnung
Haiku löst sich auf
Widerstand, Heldenmut, Kampfmoral,
diese Begriffe umstellen dich
sie machen dich nieder
dein Pazifismus, die weiße Taube,
verbrennt im Düsenstrahl
eines Abfangjägers
Schlacht um Kiew, Molotow-Cocktails
das Papier
geht in Flammen auf

2. März 2022 11:39










Mirko Bonné

Die Kanonen von Sewastopol

Christian Saalberg

aus: DIE KANONEN VON SEWASTOPOL (I – X)

II

Angesichts dieser Verlockungen kann ich euch nur empfehlen,
   Hut und Mantel zu nehmen, den Kragen hochzuschlagen
und rechtzeitig von dieser Erde zu verschwinden, die sich
   schon auf dem Rost ihrer Vulkane vor Schmerzen krümmt.

Schießscharten erwachen mit fröhlichem Gezwitscher.
Überall wandernde Türme auf der Suche nach einem
   Unterschlupf, selbst in Turin, einer Stadt hinter Glas,
Die dem Himmel näher ist, seit ihre Uhren ausgelaufen sind.

Ich würde gern wissen, welches Panorama die Pyrenäen
   auf der Promenade von Pau bieten, falls sie der
Wind nicht längst fortgeblasen hat.

Und wo ist das anmutige Toben der Blumen geblieben,
   das Rauschen der Wellen an einem Strand mit
leichtem Geröll?
Wo früher die Heide ein- und ausging, kreuzen sich
   jetzt die Wagenspuren vieler Völker, die umherirren,
bis sie spurlos verschwunden sind.

*
Aus: Christian Saalberg, Offenes Gewässer, zu Klampen Verlag, Springe 2005
und: Christian Saalberg, In der dritten Minute der Morgenröte, Ausgewählte Gedichte, herausgegeben von Mirko Bonné und Viola Rusche, Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2019

*

3. März 2022 20:24










Andreas H. Drescher

NASENSCHEIDEWAND

(NARVA / ESTLAND)

Es fügte sich 2004, dass meine Nasenscheidewand nach Estland versetzt war. Weit in den Osten verschoben, in das Gebiet von Narva. Dort roch ich schon die Oligarchen und die Sehnsucht nach der alten Zeit. Gern hätte ich in eine andere Richtung geschnuppert. Zum Beispiel in Richtung der Theaterluft von Tartu. Zu meinem Unglück wehte der Wind aber von ganz woanders her. Am Ende erschnüffelte ich sogar die kalte Wut auf meine Importschwemme. So rohölhaft stank es herüber, dass es zum Heulen war.

Vor lauter Verdruss rief ich mich selbst zum Nationalpark Lahemaa aus. Aber auch das hob meine Nasenscheidewand nicht auf.

Am Ende zog ich schließlich sogar in Erwägung, meine alten Rohölstinker doch noch mit dem Wahlrecht zu beglücken.

(Zuerst veröffentlicht in „Euroscopie“ mit Ulla Vigneron (†) 2007.)

9. März 2022 08:44










Christian Lorenz Müller

ZU EMPFINDLICH SELBST FÜR KLEBEBAND

Auf jedes neue Signal reagierst du mit Klebeband,
du hast rechtzeitig etliche Rollen gekauft,
kein braunes, dünnes Paketklebeband,
sondern eines aus elastischem Gewebe,
und nun ritscht du bei jedem Alarm
rote oder schwarze Streifen von einer Rolle,
du pickst das zehnte, zwölfte X
über unser Wohnzimmerfenster

und sprichst von deiner Mutter, die im Bad
einen großen, unverklebten Spiegel hat,
deine Nerven zerfallen zu Scherben
wenn du dir vorstellst, wie sie dort sitzt
und sich anschaut, siebzigjährig, allein
am anderen Ende der Stadt, es ist der Spiegel,
für den dein verstorbener Vater
Anfang der 80er sechs Stunden Schlange stand,
es war der letzte aus einer Lastwagenladung,
die am Vortag gekommen war, und glücklich
machte er sich damit auf den Weg,
es war Frühling, und als er einen Park passierte,
hatte er plötzlich blühende Tulpen unter dem Arm,
Leute, die ihre Jacken ausgezogen hatten,
liefen unter seiner Achselhöhle dahin,
und dann, auf einem breiten Prospekt,
erschrak eine junge Frau so sehr vor sich selbst,
dass dein Vater den Spiegel zu Boden stellte
um sich in aller Form bei ihr zu entschuldigen,
bei Irina, die dich ein paar Jahre später
vor diesem Spiegel wickelte, vor diesem Spiegel,
in dem du dich das erste Mal angelächelt hast,
diesem Spiegel, den deine Mutter nun für zu alt hält,
für zu empfindlich selbst für Klebeband,

wieder Alarm, in der Ferne ein Einschlag
der die Fensterscheiben klirren lässt.

10. März 2022 16:18










Markus Stegmann

Land

Ich lief in ein Land hinein, das kein
Land mehr war. Ich wanderte einer
Strasse entlang, die nicht mehr
bestand. Ich setzte mich an einen
Fluss, der kein Fluss mehr war,
sondern ein Meer. Ich trank vom Meer,
das kein Meer mehr war, sondern
ein Mond. Ich betrat den Mond, der
kein Mond mehr war, sondern ein
Krater. Ich lief in den Krater, der
kein Krater mehr war, sondern
ein Loch. Ich fiel in das Loch, das
kein Loch mehr war, sondern …

12. März 2022 16:26










Mirko Bonné

Fragment eines Kriegstagebuchs

Dieselben Sternbilder am Nachthimmel
wie letzten Winter. Ich bin entsetzt
beim Anblick des Bahnsteigs
voll Tausender, die auf die Gleise,
dann auf der anderen Seite herumströmen
um den viel zu kurzen Zug. Das Foto lässt sich
großzoomen, und da erscheinen vor allem Frauen,
Kinder, Alte, wie auf allen Kriegsdarstellungen,
die ich kenne. Frau mit roter Kapuze,
Kind auf dem Arm. Was hast du,
frage ich mich, von Kriegen
wirklich miterlebt. Jedenfalls Angst.
Drohungen. Bedrohungen. Die Zeit wie
angehalten in diesen Tagen. Was soll da erst
die Frau mit roter Mütze sagen. Freiheit wird siegen.
Du musst dich begnügen. Auf der A5 öfter schweres Militär,
Armeetransporter, und einmal die blaugelbe Fahne
im Seitenfenster eines vorbeiziehenden Horch.
Und die Gespräche Schein. Und die Attacken
unsichtbar. Einen Nachmittag lang hinaufgewandert in
das felsige Bergland, auf dem Schotterpfad weiße Splitter,
vorbei an den Grotten, an Olivengärten, schon gehen
die Augen wieder auf, schon möchte ich überall
am Körper Augen haben. In der Luft zu hören
die Dohlen, seltsam aufgeweckte Raben,
auf dem Smartphone der Einschlag
einer Rakete in Cherson und der Staub
im rasselnden Laub. Ich bin aufgewacht
nach wochenlangem Albtraum im eigenen
Leben, andere schwer vorstellbar, zu schwach
für großstädtische Barmherzigkeit, es tut mir leid.
Wir fahren durch die Nacht. Heim von der Crêperie
in Forcalquier. Die Kids auf den Rücksitzen zählen sie:
die Toten durch die Pest, die Toten durch Corona, die Toten
im Krieg in der Ukraine. Welche Sprache spricht man da?
Die Sternbilder wie immer. Das große W – Kassiopeia.
Orion. Der kleine Bär. Vorm Nachthimmel steht
die Roche amère. Polen bittet die USA,
eigene MIG-21-Düsenjägerbestände
an die Ukraine zu überstellen. Und du
fühlst dich wie? Am vierzehnten Tag nach
dem russischen Angriff auf die Ukraine erklärt
der russische Außenminister Lawrow, Russland
habe die Ukraine gar nicht angegriffen. Was
kann wirklich sein in einer Wirklichkeit,
wo die Lüge sich ins Recht setzt.
Ein Kinderkrankenhaus beschossen.
Mariupol. Wöchnerinnen im Raketenfeuer.
Fünftausend russische Soldaten gefallen, gefallen,
gefallen, gefallen, gefallen, gefallen in nur zwei
Wochen. Ihre schneebedeckten Panzer mit
grillofenähnlichen Gerüsten auf dem Turm,
langsam dahinschepperndes Gerät, abgeladen
irgendwo in Belarus und über die Grenze gerollt, um
die erste nächtliche Kanonade abzufeuern, hinein
ins Vorland von Lwiw. Ich denke an Claude
Simons Schilderungen des Krieges als
das menschliche Nichts, Schlamm,
Matsch, Unrat, Plunder, Müll,
in Fetzen geschossen, das Vieh
halb eingesunken in den Sumpf aus
Stumpfsinn, Angst, Abfall. Simon beschreibt
in „Die Schlacht bei Pharsalos“ die Fassungslosigkeit
der Söldner, erfahren im Kampf Mann gegen Mann,
angesichts der Enge, kaum Raum und kaum Zeit,
auf dem durchstrukturierten Schlachtfeld. Ich
suche auf Google Maps Grodek, scrolle
durch Fotos meines Freundes Farhad
aus Czernowitz vom letzten Sommer, ich
lese, wo Berdytschiw liegt, der Geburtsort
Józef Konrad Korzeniowskis, womit ich Joseph
Conrad meine. Ich war noch nicht in der Ukraine.
Es ist der 11. März. Nächste Nacht erwartet
Odessa die Einkesselung, und ich denke
an meinen Freund Jürgen, der im Mai
mit dem Rad an Kiew vorbei bis
ans Schwarze Meer wollte,
einen Blick werfen auf die Krim,
und denke an meinen Freund Steffen,
den Kosmonauten aus Leipzig, Gagarin2.
Woran erinnere ich mich von seinen Bildern
aus dem Niemandsland um Tschernobyl:
das Grün. Auf der anderen Seite ist
das Gras immer grüner. Tam
choroscho, gde nas njet. „Keiner
hört mich. Ich lalle und meine Hände
sind immerfort in Bewegung, denn
die Liebe ist unsterblich und lebt
weiter in Träumen und Gesichten“,
schreibt Emma Lew in dem Gedicht
„Tschernobyl: Smalltalk“. Krieg heißt
für die, die ihn erleben müssen, die
Unwirklichkeit zeigt ihr zerrissenes
Gesicht. Sie will das Wirkliche sein
und frisst es doch auf. Der Erzähler
Sergei Gerasimow schildert den Luft-
angriff auf Charkiw und beschreibt die
Geräusche erster Raketen und erster
Einschläge, ein nie zuvor gehörtes
Sirren und Gejaul, vermengt mit
ungeheuerlicher Stille, mit der
der Erwartung, mit dem Schweigen
zwischen Einsetzen der Furcht und
Eintreten des Befürchteten. Der Krieg
ist der Riss im Blick, in sieben Sinnen
quer durch dich, aber was weiß davon
ich. „es gibt viele häuser die stehen aber
es gibt keine mitte es gibt viele wege die
führen doch sie führen zu keiner mitte“,
dichtet Tadeusz Różewicz in derselben
Welt. CNN Grodek. Gekappt. Ende
vom Glauben ans Glück, alle elende
Utopie. Heute stand ich auf einer 2025
Jahre alten Brücke und fühlte mich wie?

*

28. März 2022 12:43