Christian Lorenz Müller

FRÜHLING AM ASOWSCHEN MEER

An allen Bäumen
knospen jetzt die Patronen,
überall schwillt Stahl.

Das rasche Aufbühn
der Explosionen, ihr scharf-
kantiger Geruch.

Mit Angst bestäubte
Augen. Flugzeug um Flugzeug
summt böse heran.

1. April 2022 17:48










Tobias Schoofs

ZWISCHEN BÄUMEN

gewalt ist wie ein gedicht
sie korrigiert sich nicht am
lauf des messers machst du
nichts und auch nichts am

bild der für immer sinkenden
sonne zwischen den bäumen

die ich erfinde und die eh
keine bäume sind bin ich

(nach Roberto Bolaño)

9. April 2022 13:04










Mirko Bonné

Bresche

Kunst tauge nicht zu Propagandazwecken, sondern gehöre zur „Gegenwehr der Menschen gegen den Krieg. Deshalb kann auch die Behinderung von Kunst oder Künstlern kein Akt gegen den Krieg sein“, schrieb Alexander Kluge am 13. April in der Süddeutschen. „Kunst ist kein Richter. Kunst trainiert Wahrnehmung. Die Kriegssituation ist eine Welt der Algorithmen. Die Kunst ist der Anwalt der Gegenalgorithmen.“ Es sind dies die vielleicht einzigen Sätze, die ich während der völkerrechtswidrigen und durch nichts zu rechtfertigenden russischen Invasion in der Ukraine gelesen habe, die mich trösten können. Sie könnten, würden wir ihn hören können – denn er ist nicht gestorben –, ebenso von Oscar Wilde stammen – der den Krieg einer ganzen von Dünkel und Vorurteilen gelenkten Gesellschaft gegen einen Einzelnen am eigenen Leib erfahren musste. Wladimir Putins Europa aufoktroyierter Krieg ist ein Angriff auch auf die Werte, für deren Einsetzung und Erhaltung unzählige Künstlerinnen und Künstler seit Jahrhunderten gestritten haben. Man lese nur George Orwells Visionen „1984“ und „Animal Farm“, lese sie, anstatt sie abzutun als allzu bekannt und Schullektüre. Theater, Dichtung, Tanz, Fotografie, Ballett, Video und Malerei und Zeichnung und Plastik – und Musik! – und Übersetzung – reichen tiefer und drücken tastend oder schreiend, laut oder leise, mehr aus, als dass sie instrumentalisiert oder funktionalisiert werden könnten selbst in Zeiten extremster menschlicher Auseinandersetzungen. Was uns dazu führt, andere zu überfallen, abzuschlachten, zu vergewaltigen und auf offener Straße hinzurichten, den Zusammenbruch des Minimums an menschlichem Miteinander, alles, jede Freude und jedes Gräuel, jeder echte Austausch und jede Untat, wird stets – seit Jahrhunderten und -tausenden – thematisiert in den Künsten, die frei sind, sich freigerungen haben von Staat und Kirche, jedweder Inquisition, gerade deshalb. Kunst hat keine Funktion, nicht mal eine Aufgabe, so wenig, wie ein Kind sie hat. Sie ist Ausdruck von Lebendigkeit und damit Unterschiedlichkeit, wie jedes Kind. Nein, ich bin kein politischer Mensch. Ich misstraue jedem, jedem Axiom, das nicht, wie Keats sagt, am Puls überprüft wurde. Der Zweifel an aller politischen Äußerung ist mein Terrain. Und so wäre es auch unter einer Tyrannei wie jener Putins. Doch ich glaube fest, ja unverbrüchlich an einige wenige menschliche Werte, und es ist kein Zufall, dass ich sie in nur zwei dichterischen Texten der letzten achtzig Jahre ausgedrückt finde, Gedichte, die sich jeder Vereinnahmung zu entziehen vermochten: Ezra Pound wurde in einem Käfig gefangengehalten, weil er sich für Mussolini einsetzte, und schrieb dennoch den Abschluss des Canto LXXXI: „What thou lovest well remains, / the rest is dross.“ W. H. Auden drückte seine Bestürzung über den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in seinem Gedicht „September 1, 1939“ aus und fand darin zu einem Vers von nahezu galaktischer Bedeutsamkeit: „We must love one another or die.“ Man lese es nach, es steht ja alles im Netz.

*

22. April 2022 21:57










Hans Thill

Kleine Geschichte der verbliebenen Zeit

La chevelure des choses
coiffée avec un doigt d´eau
Jorn/Dotremont

Ein Brot, das du in die Kommandozentralen
wirfst, kommt dir als Stein zurück. Dem Volke
dienen. In der Hand der Leute ist das Brot ein
Bumerang, beflügelte Sprache. Auch das Brot
schaut zurück. Die ersten Früchte hat

das freie Feld getragen. Dörfer umringten
ihre Menge, man mußte nur aufsperren und
war satt. Betreten des Rasens, die Stadt
muß wieder zur Wiese werden, Wiese ist
Macht. Horus und Hengist, jeder für sich,

eine Insel, die Liebenden, noch vorsichtig
betraten sie Neuland. Ein Gebirge kostete
nicht viel und Bauern gab es umsonst oben.
drein. Alle Wildheit dem äsenden Pferd,
das den Garten verschmäht, um über Zäune

zu rasen. Partisan Wiese, Botschaften des
Rasens. Auch die See schaut zurück. Du hast
Boote unter den Füßen, du gehst über Köpfe
hinweg, die ihre Müdigkeit vergessen. Heute
labt dich ein Mund mit Crack, mit Ei. Längst

sind es Siedler und keine Liebenden mehr.
Kein Mensch ist illegal, kein Mensch ist Hegel.
Du bist feucht hinterm Ohr, läßt für ihn den
Rest Ei in der Schale. Du bist hungrig. Kleine

Geschichte der verblichenen Zeit. Man er.
wachte, die Augen noch nicht zerkratzt. Die
Erde belohnte Schönheit, wollte nichts wissen
vom Fleiß. Industria am Morgen, eine Kerze,
der Rauch, auf Höhe des Bürgersteigs,

krümmte sich vor deiner Brust. Betreten der
Wiese. Gebäude stehen oder wurden abgerissen,
wenn sie sich in den Weg stellten. Die Jahre, eine
Herde plus und plus, Knüppel, in einem Moos.
Freundlichkeit der Tiere, da sie im Gras stehen,

kommen Bootsleute, um ihnen das Fleisch zu
nehmen, denn sie haben Feuer dabei. Auch die
Luft schaut zurück. Du nimmst sie als vergangenen
Rauch, entwichen einer Flasche in der See oder
selbst gezogen aus dem Tabak, aus den Stoppel.

feldern. Kleine Geschichte mit Blutergüssen. Von
den Füßen aufwärts bist du beliebt, starr, ein Baum,
der seinen Bart in die Luft streckt. Es ist Sonntag,
es ist Frollein Leichnam, es ist nützlicher Juli,
ein Fetzen Bumaire, fest in der Schwebe, weit

übers Schwäbische hinaus, über die Karparten
nach Ivano Frankivsk. Old Soldier very drunk.
Dazwischen Flüsse heißen Oder, Oder. Monate
mit Namen, die fast nur aus Zahlen bestehen.
Die Zahl ein Stück Lippe. Du traust ihr nicht,

nimmst das andere Wort. Noch hast du keinen
Fuß in den Schlaf gesetzt. Der Stein, den du in
die Komazentralen wirfst, irgendwann wirst du
ihn zerlegen. Das Essen hat keine Bedeutung.
Betreten des Rasens, keine Bedeutung. Es gibt

zu wenig Substantive, denn auch die Syntax
schaut zurück. Die Mähne der Dinge, zu käm.
men mit nasser Hand. Du setzt eine Verblüffung
in die Zeit, du stoppst den Fluß mit dem rechten
Fuß. Sind wir hier Städte der Barmherzigkeit?

Wir leben ewig, wenn wir das überstehen. Das
Brot, hättest du es jetzt in der Hand, du würdest
es essen, doch sind keine Felder in Sicht. Du
hast Kommandos im Ohr, Knochen der Echo
aus einer Kindheit ohne Landschaft unter den

Stiefeln. Auch der Sand am Meer schaut zurück.
Jetzt landen sie an, schütteln sich, Hunde, und
du begreifst, daß du die Insel bist oder umgekehrt
der Kern einer Lücke, nackt wie ein Pferd.

23. April 2022 15:17










Mirko Bonné

Kein Lied

Wohin unterwegs du warst
– unbekannt. Ich kenne
deinen Tagesbefehl
nicht, nur den Tag,
kein Lied, das
du gesungen hast,
vielleicht sogar gegrölt
aus vollem Hals und vor
lauter Heldenshit. Ich weiß
von keinem Schimmer Licht,
in dem du lagst. Froh? War da
ein Duft? Stiller Augenblick. So.
Licht. Ferne Geräusche, fremd.
Hat dich wer liebgehabt? Wer
war das? Eh die Geschosse
kamen, und immer näher,
bevor es die Granate
zerriss, die Stille
zersplitterte
und du
mit.

*

28. April 2022 12:45