Christine Kappe
Im d-moll-Feld
- Aha, das war also an Bedingungen geknüpft. Und nochmal
Aha: das A am Anfang großgeschrieben
Weil Interjektionen immer einen neuen Satz einleiten
Dein Tonfall, gefällt mir, meist ist er gesungen
Durchs Handy aber verliert er an Präsenz
Wie wir da unseren Notfallplan Gas aushecken
DU sagst die entscheidenden Worte
ICH höre sie nicht
Ein Treffen zwischen
Ares und Asklepios
„Die Aufgaben der Götter waren Anlass zur Anbetung…“
Und ich bin noch dabei, die Vorhalte zu verstehen, nicht Vorbehalte, auch nicht Vorhaltungen…
Anhand schon dieser drei Wörter merkt man:
Musik
Das Geräusch der Fahrzeuge, die um 22:30 die Stresemannallee hochfahren und die Bäume wässern
Klar, d im Bass liegen lassen
Im d-moll-Feld singen Rotkelchen, obwohl es schon dunkel ist
Und die Menschen gehen, anstatt zu schlafen, in dämmrigen Fluren auf und ab und führen Selbstgespräche
Christian Lorenz Müller
BERLIN GEWANDET SICH IN SONNTAG
Das Nähmaschinenzwitschern
der Lerchen über dem Tempelhofer Feld,
sie flicken ein paar weiße Wolken ins Blau.
Auf der Startbahn zwei Skaterinnen,
ihre nackten Beine blitzen, zwei Scheren,
die sich rhythmisch öffnen, rhythmisch schließen.
Berlin gewandet sich in Sonntag,
heftet sich die grüne Borte der Friedhöfe
mit Kirchturmnadeln
an den Rand von Neukölln
und seine Schwalben
sticken sich selbst in die Luft.
Für Marbo M. Becker und die anderen
Betreiber*innen des „Belvedere am Kreuzberg“
27. Juli 2022 09:21
Nikolai Vogel
Große ungeordnete Aufzählung (Detail)
die Porträts mit dunklem Hintergrund,
die Erinnerung mit hellen Stellen,
Trauer, Fröhlichkeit,
eine neue Seite,
Buchseite, Bildschirmseite,
Seitenstraßen, Seitenfenster,
die Lust zu tanzen, Erschöpfung, der Zustand der Welt,
einen Vorhang zuziehen, lange Wimpern, die Augenfarbe, Augenblick,
Onlinezeiten, Offlinezeiten,
Ausformuliertes, Angedachtes,
ein gesuchtes Wort,
Zusammenhänge,
28. Juli 2022 13:01Mirko Bonné
Willkommen, Tihomir
Mit ganz erstaunlich wenigen, klanglich fein austarierten Wörtern, die über die Zeilen zu laufen scheinen wie Fingerkuppen über Klaviertasten, entwirft der 1974 in Belgrad geborene Tihomir Popovic seine Gedichte. Frappierend sind ihre historische Tiefe und ihre kindliche Landschaftlichkeit, in deren Zentrum stets Einzelne stehen, die unterwegs sind und darüber staunen. Tihomir Popovic lebt heute in Hannover und lehrt Musikgeschichte und -theorie an der Hochschule Luzern. Zusammen mit Markus Stegmann, dem mein inniger Dank für seine Lektüreeindrücke und sekundierende Begleitung gilt, heiße ich einen echt europäischen Dichter im Goldenen Fisch aufs Herzlichste willkommen. Willkommen, lieber Tihomir!
*
29. Juli 2022 10:45Tihomir Popovic
montagsglocken
ich reiche
mir die hand
und steige aus
die zitadelle
sie erzittert
vor geläut
ein meer
ein weiches
bruderholz
ergießt sich
über mich ich
zünd es an und
schwimme
………… basel
29. Juli 2022 12:51Mirko Bonné
Nach einer Runde um die Sonne
An den offen stehenden Fenstern
des Hotels Goldener Oktober,
gegenüber Kohlenmonoxidbirken
und zwischen Schulflachbau,
Fernsehturmspitze und Sternen,
ist da noch immer dieser Kern
an einem Abend anscheinend
lebensvoll, nur völlig stumm,
auf dem Weg durch eine Nacht
nach einer Runde um die Sonne.
Inmitten simulierten Miteinanders
pulsen da weiter Golgi-Apparat,
endoplasmatisches Retikulum,
Auffaltung, Instandhaltung
eines Tons und innigen Rests
beständig vertrauter Stimme
im Birkenblättergerassel und
blassen bleibenden Funkeln
auf dem Weg durch eine Nacht
nach einer Runde um die Sonne.
*
30. Juli 2022 21:53