Mirko Bonné

Schneeinvestment

Der verharschte Schnee und
die Spuren darin. Was oder
wer lief da, wohin, woher.
Alles Weite soll sich zeigen,
das ist die Schneeinvestition.
Alles wird Flocke, das Treiben
nimmt kein Ende, der Schnee ist
das beschlossene Aus alles Engen.
Was werden die Kinder behaupten
von dir, falls sie sich überhaupt
deiner erinnern. Du da, der du
früher vielleicht einmal warst,
bist du im Schneegestöber wieder.
Deine Hellseherkräfte haben reichlich
Rost an den Kufen, aber wer weiß schon,
wer hat von Weisheit einen Schimmer. Einer
der Jungs auf den Schlitten bleibst du für immer.

*

4. November 2022 13:45










Markus Stegmann

Sandra Senn: Nachtblüten, 14 lyrische Texte, 2022, Landvogteischloss Baden, Schweiz

4. November 2022 22:39










Thorsten Krämer

Meine fünfte Büchnerpreisrede

ließ ich im ICE nach Berlin liegen. Ich frage mich, was aus ihr geworden ist. Zwei-, dreimal habe ich versucht, sie aus dem Gedächtnis noch einmal zu schreiben, aber schon nach wenigen Sätzen verlor ich immer den Faden. Wenn ich an sie denke, sehe ich nur einen Umriss, ich höre einen hohen Ton und meine, ein dezentes Zimtaroma zu riechen. Sobald ich versuche, eine dieser Sinneswahrnehmungen zu fokussieren, wird alles plötzlich noch vager, und ich spüre nur noch den Puls in meinem Hals schlagen. Mein Bruder meint, das sei ein Anzeichen für erhöhten Blutdruck, ich sollte mal besser zum Arzt gehen. Aber das Phänomen tritt ausschließlich auf, wenn ich an diese spezielle Rede denke, und so oft denke ich wirklich nicht an sie.

6. November 2022 10:11










Christian Lorenz Müller

SCHLITTENPARTIE MIT MARK TWAIN

Im ersten Schnee verwandelten sich
die Rostspuren der Kufen in Eisenbahnschienen,
wir banden Schlitten an Schlitten
und dann schnaufte mein ältester Cousin
hinein in die weiße Prärie,
Dampf stieg aus seinem Mund
und er zischte, dass wir absteigen
und schieben sollten, aber wir blieben sitzen
in unseren gemütlichen Waggons,
wir warteten, bis der Zug
den Fuß des flachen Hügels erreichte,
wo er stecken blieb, es ging nicht vor
und nicht zurück, ein Gewaltmarsch
von mindestens drei Minuten
trennte uns vom Hof der Großeltern,
unmöglich zu schaffen bei fünf Grad Frost
und Schnee bis zu den Knien,
also mussten wir auf Hilfe warten,
wir begannen zu frieren, und die Packung
Studentenfutter, die jemand mitgenommen hatte
ging schnell zu Ende, wir würden verhungern,
wenn wir nicht ein Feuer machten
und einen von uns darüber brieten,
wir müssten das Los entscheiden lassen, rief ich,
und watete zum nächsten Birnbaum,
um vier Stöckchen vom vereisten Ast zu brechen.
„Spinnst du?“, schrie der älteste Cousin mir nach,
„das ist ja Kannibalismus, das ist verboten.“
„Ja genau“, schrie ich zurück,
die Stöckchen schon in der Hand,
„Kannibalismus auf der Eisenbahn“.

9. November 2022 09:39










Tihomir Popovic

tessiner irrfahrt

auf den straßen
blei und strohpuppen
das dreigespann nimmermüde
vor dem rathaus bäumen
die pferde sich auf

unter den hufen
persischer funkenflug
im buschwerk am anderen ufer
fällt er in großkatzenaugen
ein nicken endstation

17. November 2022 11:56










Thorsten Krämer

Meine fünfzehnte Büchnerpreisrede

beschäftigte sich ausgiebig mit zwei japanischen Künstlerinnen, die ich sehr schätze: Yayoi Kusama und Kusama Yayoi. Ich war zunächst auf Yayoi Kusama aufmerksam geworden, B. schwärmte eines Tages von ihr und zeigte mir Bilder ihrer Arbeiten. Die geradezu manische Art, mit der sie alles, was sie umgab, mit diesen Punkten versah, die ihr Markenzeichen sind, brachte sofort etwas in mir zum Klingen. Auch ich kenne diese Bewegung, diesen Drang zur Wiederholung, der gleichzeitig auch eine Art Unfähigkeit darstellt, die Unfähigkeit nämlich, ein Ende zu finden. Es überraschte mich nicht, als ich von B. erfuhr, dass die Künstlerin von der Gesellschaft als krank betrachtet wurde und den Großteil ihres Leben in einer entsprechenden Einrichtung verbracht hatte – keineswegs gegen ihren Willen, sie schien sich dort wohlzufühlen. So sehr mich diese Arbeiten ansprachen, ich verfolgte das damals nicht weiter, nahm dieses besondere Werk nur voller Sympathie zur Kenntnis. Erst Jahre später sah ich auf Instagram ein Bild, das genauso aussah wie eine ihrer Arbeiten, aber nicht von Yayoi Kusama stammte, sondern von Kusama Yayoi. Ich staunte nicht schlecht, als ich diesen fast identischen Namen las! Sollte das ein Witz sein? Aber dann schaute ich mir die Arbeit noch einmal genauer an, und bemerkte, dass Kusama Yayoi gar nicht die Punkte von Yayoi Kusama kopiert hatte, wie es zunächst aussah, sondern vielmehr anstelle der Punkte Löcher gesetzt hatte. War das nicht großartig? Die eine Künstlerin setzte der Welt ihren Stempel auf, die andere, in einer diametral entgegengesetzten Skepsis, durchlöcherte die Welt. Kindlicher Übermut auf der einen Seite, tiefster Pessimismus auf der anderen Seite, verbunden durch die beiden Namen, die wie Spiegelbilder einander ähnelten. All das brachte ich in meiner Rede zu Papier, aber als ich sie dann im großen Saal der Akedemie hielt, geschah etwas Merkwürdiges. Schon bei der ersten Nennung der beiden Namen lachte jemand kurz auf. Während meiner folgenden Ausführungen wurde es immer unruhiger, man tuschelte, kicherte sogar. Wenn ich von meinem Manuskript aufblickte, sah ich in amüsierte Gesichter. Nur die Präsidentin der Akademie wirkte alles andere als amüsiert, sie sah mich streng an und machte dezent die Geste des Halsabschneidens. Ich dachte aber nicht daran, meine Rede abzubrechen, und sprach weiter bis zum Ende. Der Saal tobte inzwischen vor Lachen, die Stimmung erinnerte mich an eine Karnevalssitzung. Die Präsidentin stürmte auf die Bühne, schob mich wenig elegant zur Seite und lud zu den bereitstehenden Häppchen ein.
–Es ist vielleicht besser, wenn du mal eine Pause machst mit diesen Reden, sagte sie später am Abend zu mir, als sie sich wieder beruhigt hatte.
–Wenn du meinst.
–Ja, meine ich.
–Verstehe, sagte ich, aber ich verstand nicht wirklich.
Zu Hause betrachtete ich lange die Punkte und Löcher von Yayoi Kusama und Kusama Yayoi. Es schien, als sprächen sie zu mir, aber das Blut pochte zu laut in meinen Ohren und ich verstand nicht, was sie sagten.

17. November 2022 16:48










Alexander Peer

November
Pasterze eislos

Pasterze: Gletscherblick ohne Gletscher

Zeit der Kongresse
der Festivals, der Messen,
der Abendroben
und der Diskurse.

In später Nacht
gehört, so
flammende Appelle!

All die heiße Luft,
die aufsteigt in den Städten,
ist nicht gut fürs Mikroklima.

 

 

 

21. November 2022 15:20










Markus Stegmann

Eichendorff reloaded, erstes Welttheater

Flechtet Netze meine Locken
rufe Erde mich zurück
dran die Welt wie Erdenkreise
die Aufgebahrten als sie fielen
möchte ich im rauschenden
Haine im durstigen Schmerz
umschlingen die Leiden
Missgeschicke geräth Furcht
um Felsen ins Handgemenge
schliessen wir unsere niedergelegten
Arme und Augen fliehen mit
den Toten tragen gefühlvolle Herzen
die zweiten Engel wie mein Heer zerfiel
als die Sonne Saporischschja zu röthen
begann liess ich Afrika liegen bei den Vögeln
den Hals verstrickter Münder Seefahrt
Noth und Wogenbraus des Morgenrotes Schlaf
lag ich vom Blenden halb herabgesenkter
Meergeist das weisse Segel Afrikas
minus Amplitude mit zifferloser Leinwand
und molekularem Atem
gewannen wir Höhe überm Mond
denn blutig sind die Dolche
welches Blatt wäre Blatt für solches
Welttheater das Schiff Seraphim das
jegliche Natur Longitude leblos
herbeirückt als Bild minus Abbild
ans grosse Welttheater verloren
in einem Hauch treten unvermengte
Schaar und Schönheit auf

21. November 2022 22:03










Mirko Bonné

In der Schneedecke Fährten

Auch wir waren das mal, so Ge   fährten, nur ist es lange vorbei.
Was kann es sein, das mich nicht   mehr loslässt an so einem, dem
ich schreibe, entschuldigend und   zornig, zärtlich, verständnisinnig,
und der doch nur lauter verstummt.   Beharren? Er ist ja wie verblichen.
Und der Geist, der in mir wiedergeht,   scheint grausam damit zu spielen.
So gefriert der verharschte Schnee   auf aller gemeinsamen Zeit, denn
allem Zartgefühl habe ich selbst lang   abgeschworen. Da sind Fährten,
das Leben bis hier, nirgends seine,   unsichtbar, ungeworden. Fühlbar
trag nur ich unsere alte Geschichte   noch. Und dennoch – was ist es?
In der Schneedecke Fährten. Lass   gut sein. Jedem auf seine Weise,
ihm, mir, gestern, heute, morgen,   und allen Spuren eine gute Reise.

*

29. November 2022 01:55










Christian Lorenz Müller

JELYSAWETA ANDRIJIWNA, Germanistik-Professorin
aus Charkiv, schreibt einer deutschen Kollegin eine E-Mail

Sie kennen ja unsere Chruschtschowka,
Sie standen ja damals vor der fensterlosen Schmalseite
unseres Hauses und hatten das Gefühl,
der Weg aus Betonplatten, den Sie gekommen waren,
sei in den Himmel geklappt worden,
Sie ließen sich von mir erzählen,
wie die sture Alte von nebenan
sich der Sanierung widersetzt hatte,
die Fenster ihres Appartements, 16 Quadratmeter,
sind noch aus der Sowjetzeit, verzogene Holzrahmen,
kaum noch Kitt um das Einfachglas,
das aufklirrt vor Angst
wenn in er Nähe eine Bombe fällt,
diese Alte geht nie unfrisiert aus dem Haus,
die Absätze ihrer Stiefel im Winter
sind eispickelspitz und ihren Liebhaber
führt sie an der Hand wie andere Leute
ihre Promenadenmischung an der Leine,
dieser Alten also gefiel es zu baden
nachdem die Warmwasserleitung unseres Rayons
schwer getroffen worden war,
der Geysir blubberte und dampfte
neben jener Metrostation aus dem Boden,
die auch Sie, meine Liebe, benutzt haben,
die Alte also ging im Bademantel
nach Klein-Island, wie die Charkiwer den Bahnhof
nun nennen, ihr Lebensgefährte
trug eine Tasche und einen Klappsessel,
und er hatte sich ein weißes Handtuch
über den rechten Unterarm gehängt,
aber er war kein Unterhändler, er war ihr Butler
sie wollte sich nicht ergeben, nur baden,
und so half er ihr vor Ort aus dem Mantel,
legte ihn auf das Stühlchen und schaute zu,
wie sie in die schlammige Brühe stieg,
alle schauten ihr zu, die Arbeiter,
die vor einer dröhnenden Pumpe standen,
die Leute, die aus dem Bahnhof kamen,
alle Chruschtschowkas unseres Rayons
rissen ihre Fensteraugen auf und starrten
auf die kleine, zierliche Frau, die ins Wasser stieg,
ein wenig plantschte, bevor sie sich die Seife reichen ließ,
sie wusch sich sogar das Haar, und ich schwöre:
Sie war sauber, als sie aus dem Wasser kam,
das weiße Handtuch, mit dem sie sich trocknete,
verschlierte nicht, ich habe es nicht selbst gesehen
ich war in der Universität, aber ich schwöre es,
sie war rein, als sie aus der großen,
dampfenden Pfütze stieg.

Chrustschowkas – Drei- bis fünfstöckige Wohnblocks,
vornehmlich aus den 1960er oder 1970er Jahren,
die den postsowjetischen Raum noch heute prägen.

30. November 2022 09:02