Thorsten Krämer

Sfumato II

Schlieren gegen das Vergessen, unscharfe Momente
im Schneidersitz: Die Atmung setzt minutenweise
aus, Zwerchfell-Projektionen an der Zimmerwand.

So halbvolle Realisationen also, vom Blättchen
gelesen, andere Notationen für andere Zustände
werden gebraucht. Weil Musik geht immer.

Und zuletzt die Sprache. Verhackstückte
Erleuchtungen, Abbruchunternehmungen am
frühen Abend. Die Szenerie zerfällt

in disparate Szonen.

7. Dezember 2022 11:01










Tihomir Popovic

satie in gundeldingen

im hungrigen tannengrün
steht er an der kreuzung
stolze straßennamen
die akkorde schluchzen

sein flügel verlässt ihn
mit knirschendem pedal
schreitet davon
dänische dogge

die rechte hand
blickt um sich
fliegt auf
setzt sich

10. Dezember 2022 17:54










Markus Stegmann

Uhland revisited, weisser Hirsch

Als ich
meine Hirsche
am Erdrand
Stillstand sah
Drohnen über
Hunden Tiefen Höhen
sang mit himmlisch
süsser Stimme
morgenloser Jäger
helle Kimme
lagen sie und die
um Stimmen rangen
rannten rissen
meine Hirsche lautlos
dein offnes Haar
vom Höllengrunde
singst du stumm
in meinem Munde

10. Dezember 2022 22:32










Markus Stegmann

Uhland revisited, Malve

Verschneiter Ginster
und Gestrüppe darin blüht
rosenfarb verstrichne
Landschaft verwechselte
Zeiten aus dem
liegenden Halse brechen
die kleinen Früchte
der Rosen im Herbst
halten sie den Winter
bannen den Beschuss
der Raketen im
duftlosen Dezember
blühen Malven
am Himmel

11. Dezember 2022 17:16










Mirko Bonné

Saalberg in Aachen

Wir sind hinauf unter die Vogelausgucke gestiegen
in die Linden und Kastanien, Saalbergs Gedichte

und ich, unter die Säulen, in das Säulengelände
auf dem Lousberg, der den Namen womöglich

einem französischen König verdankt. Frau Lou,
wer hat Ihnen ein Stück von Aachen geschenkt?

Seine Gedichte gingen mit mir durch das Blinken.
Es war ein Julinachmittag, und die Leute staunten

winzigsten Windböen nach, riefen: „So ein Tag!“
Ein Tag, der Wege durch den Spiegel kannte und

so voller Leben, dass immer wieder momentlang
alles gut war. Alles meine ich, wie es hier steht

in diesem Gedicht, das erzählen will von Saalberg
in Aachen. Im Lärm der Lousberger Amseln las ich

Kindern ein Märchen von der Widerspenstigkeit vor.
Das frohe Glück wehrte sich. Wir geben niemals auf.

*

11. Dezember 2022 21:12










Tihomir Popovic

turner in luzern

die mauerzinnen
in einem oxfordblau
das ufer handschrift
des sonnenspiegels

zum wasser hinunter
bückt sich der fischer
und kein turm mehr
am gewohnten platz

12. Dezember 2022 08:14










Christian Lorenz Müller

TOTALAUSFALL

I

Totalausfall, ich war von der Regierung
über mein Mobilnyk informiert worden,
und dennoch konnte ich nicht glauben,
was ich nicht sah, als ich zwischen die
finster kantenden Chruschtschowkas stolperte,
wo waren die sonst so zahllos
in die  Dunkelheit gekachelten Fenster,
wo war das mit Gardinen, mit Vorhängen glasierte Licht,
wo die Laternen über den Eingängen der Blocks,
die gelangweilte Jugendliche sonst so gerne
mit Steinen bewarfen, nun hatten die Hooligans
aus dem Nachbarstaat Drohnen darauf geschmissen
die Hooligans waren in die Wohnungen ein-
gebrochen, ich sah es an dem Flackern und Funzeln
hinter etlichen Fenstern, jemand verwischte Licht
in einem Wohnzimmer, verwischte alle Spuren
eines abendlichen Alltags und klaute
das letzte bisschen Wärme aus den Winkeln,
ich fand zu meinem Haus, ich stocherte die Stahltür
mit meinem Schlüssel auf, Gott segne den Erfinder
der Taschenlampenfunktion, ich hatte 67 Prozent
und trotzdem das Gefühl, es nicht zu schaffen,
der Lift hing mit geöffneten Türen
zwischen zwei Stockwerken, ein Schrank,
den die Einbrecher aus einer Wohnung geschleppt
und in den Schacht gestoßen hatten,
mein Licht flatterte panisch im Stiegenhaus
hin und her, ein kraftloser Vogel,
der das Fenster in die Freiheit nicht fand,
nie benutze ich sonst das Stiegenhaus,
der Schmutz, die Scherben, der Uringeruch,
Beklemmung, wenn irgendwo im Haus
Türen schrammen, eine Angel schreit,
ich schaffte es bis hinauf in den vierten Stock,
Stahltür, Wohnungstür, das schloss mich auf,
das bahnte mir den Weg, ich war daheim,
bis meinen Finger den Schalter fanden
und Dunkelheit den Flur erfüllte.

 

 

13. Dezember 2022 10:00










Mirko Bonné

An die Sternen

IHr lichter die ich nicht auff erden satt kan schawen /
Ihr fackeln die ihr stets das weite firmament
Mitt ewren flammen ziert / vndt ohn auffhören brent;
Ihr blumen die ihr schmückt des grossen himmels awen
Ihr wächter / die als Gott die welt auff wolte bawen;
Sein wortt die weisheit selbst mitt rechten nahmen nennt
Die Gott allein recht misst / die Gott allein recht kent
(Wir blinden sterblichen! was wollen wir vns trawen!)
Ihr bürgen meiner lust / wie manche schöne nacht
Hab ich / in dem ich euch betrachtete gewacht?
Regirer vnser zeitt / wen wird es doch geschehen?
Das ich / der ewer nicht alhier vergessen kan /
Euch / derer libe mir steckt hertz vndt Geister an
Von andern Sorgen frey was näher werde sehen.

„An die Sternen“, ein Sonett von Andreas Gryphius (1616 – 1664), ist Teil der dritten Sammlung des Dichters und erschien gegen Ende seiner niederländischen Studienjahre 1643 in Leiden. Ein Jahrzehnt jünger als Rembrandt, der die Universitätsstadt 12 Jahre zuvor verlassen hatte, war Andreas Greif aus Glogau in Schlesien, der sich Gryphius nannte, da 27 und seit sechs Jahren poeta laureatus. Anders als von „Es ist alles eitell“ und „Menschliches Elende“ gibt es von „An die Sternen“ keine Erstfassung in den „Lissaer Sonetten“. Auch deshalb erscheint mir „An die Sternen“ einzigartig und wundervoll. In meinen Augen ist das fast 380 Jahre alte Gedicht eines der schönsten in meiner Sprache. Lesen lässt es sich als Anrufung, Huldigung oder Preisung der Himmelsgestirne und somit, wenn man will, Gottes, von dessen Welterschaffung sie Zeugnis ablegen. Davon sprechen jedoch allein die ihre Alexandriner wie auf stellaren Bahnen über die Zeilen führenden Verse der beiden Quartette. Die in den Anfang zurückmündenden sechs Zeilen der mit schweifenden Reimen versehenen Terzette erzählen dagegen von der Lust des dichterischen Gemüts am Staunen über die Welt und ihre Darstellbarkeit durch das so hell wie ein Stern leuchtende Wort. Es geht Gryphius um das gar nicht göttliche, vielmehr immer aufs Neue aus dem eigenen Ich schöpfende Wunder der Benennung: eine Lebendigkeit stiftende Kraft, die der Dichter stellvertretend für jeden festzuhalten versucht, der wie er nach Spuren und Zeichen der „Herz und Geister ansteckenden Liebe“ sucht. Ich stelle mir, wenn ich „An die Sternen“ lese, auch Andreas Greif vor, in einer Nacht unter freiem Himmel, den Blick erhoben, staunend, rätselnd und sicher nur seiner selbst.

*

15. Dezember 2022 09:27










Christian Lorenz Müller

TOTALAUSFALL

II

Dunkelheit erfüllte den Flur,
ein Zuhause ist dort, wo Licht ist, Wärme,
das begriff ich, als ich vor der Garderobe stand,
meine Finger den Mantel aufzuknöpfen suchten,
meine Füße aus den Stiefeln wollten,
immer, wenn ich heimkomme, brühe ich mir Tee,
ich setze mich für eine Viertelstunde aufs Sofa
und höre Musik, bevor ich dusche, esse,
Totalausfall, ich hatte eine Flasche Wasser
aus der Klinik in der Tasche, das war alles,
65 Prozent, ich tastete hinein
in die muffige Finsternis des Kühlschranks,
Butter, Wurst, Smetana und der große Topf
mit dem Borschtsch, seine Kälte gor
zwischen meinen Händen, als ich ihn
ins Wohnzimmer trug, ich hatte Hunger
nach roter Hitze, nach einem Teller,
der dampfend vor mir stand, ich hatte Ekel
vor dem Fett, das meinen Gaumen überfror,
vor dem klammen, dunklen Brot,
am meisten aber fehlte mir der Tee,
sein Zuckerleuchten auf der Zunge,
ich aß nicht viel, ich setzte mich aufs Sofa
und schrieb Maksym, 59 Prozent, alles in Ordnung,
nur kein Strom, kein Wasser, die Rayonsverwaltung
verspricht einen Tanklastwagen
für den kommenden Vormittag, das Gelbe
soll man stehen lassen, das Schwarze spülen,
morgen Vormittag würde ich in der Klinik sein,
dort war es warm, dort gab es Tee, 43 Prozent,
ich schaltete das Mobilnyk aus und zündete
eine Kerze an, ein Lichtbleistift schrieb
in flackernder Schrift Rätselhaftes auf die Wand,
ich hockte da, wartete in Mantel, Mütze, Schal,
bis ich die Wohnung wieder verlassen durfte,
spürte die Kälte um meine Stiefel zischeln,
sie kam aus Maksyms Kammer, ihr Reptilienleib
wand sich um meine Beine, schlüpfte durch die schad-
hafte Balkontür hinaus ins Freie, Schlange,
die immer dann beweglich wird
wenn draußen der Frost glüht,
schließlich putzte ich mir die Zähne,
zog das Sofa aus und ging ins Zimmer
meines Sohns, ich nahm sämtliche Decken
von seinem Bett, das Laken nackt und bleich
im schummrigen Schein des Mobilnyks,
ich spürte, dass er fror, dass die Feldküche
vielleicht getroffen worden war, 38 Prozent,
ich legte mich aufs Sofa, zog mir die Decken
über die Augen, dachte an den süßen Glanz
heißen Schwarztees und hatte doch nur
schwarze Bitterkeit im Mund.

22. Dezember 2022 10:22










Markus Stegmann

Mörike repainted, Peregrina

Weniger als nichts
lichtloser Dezember
jene Augen des Waldes
flackern um verschlungene
Hälse nur schönfalte mir
nicht den Tod in Kelchen
der Nacht vergessene Blicke
stumm einzutauchen in
den Spiegel der See
wo halbverhängte
Stunden erstickte Küsse
Raketen und Rosen brennen
eh das Frührot schien
führten veilchenblasse
Lippen um Lilien im
Schatten des Meeres
verfing sich zag
ein Widerschein

26. Dezember 2022 23:10










Thorsten Krämer

Sfumato III

Verrauchtes Rauschen, verzaubertes Publikum
vor der Waschmaschine. Das sind so mechanische
Ersatzhandlungen, der Blick durch Lumpen.

Oder Urlaube, Dauerbelichtungen unter südlicher
Sonne: unkenntlich längst die Gesichter, das
Wischiwaschi des Sentiments.

Das Konkrete ist der Feind des Wollens. Das
ist das Geheimnis, das in diesem Bild versteckt
sein soll. Aber das kann nicht sein, es

steht doch offen da.

30. Dezember 2022 11:28