Christian Lorenz Müller

INSELPOST

Unseren Postkasten haben wir abmontiert,
denn der Wind ist hier sehr stark, er verwandelte
alle eingeworfenen Briefe in Möwen,
sie flatterten aus dem Schlitz
und schrien in vier oder fünf Sprachen
frech um unser Haus,
wenn wir nicht aufpassten,
stürzten sie sich durchs offene Fenster,
scheuchten die graue Zeitung
zu einem jungen Albatros, und das Blatt
mit einem angefangenen Gedicht
wurde zu einer Sturmseeschwalbe,
die hinaus auf den Atlantik flog,
selbst die dicksten Bücher
schlugen mit ihren Seiten,
sie flatterten aufgeregt von ihren Stellagen
wie unsere Hühner von der Stange,
wenn nachts der Fuchs kommt,
wir haben unseren Postkasten abmontiert
und stellen stattdessen das Auto
in Finnphort an den Rand der Straße,
wir öffnen das Seitenfenster einen Schlitz weit,
der Briefträger kennt unsere Adresse,
algengrüner Vauxhall Astra Mk.3
mit einer Windschutzscheibe in Taucherbrillenform,
wir setzen uns auf die eingeworfenen Briefe,
auf weiche Daunen, sie polstern uns
den Weg nach Knockvologan.

Miek Zwamborn und Rutger Emmelkamp zugedacht

7. Februar 2023 10:00










Tihomir Popovic

weisheit, palma

vielfarbig die morgenluft
in deinem lied
meer und almudaina
in deinem schatten

auf den balkonen
flattern streifen
filme über den wind
und unsere schritte

gehüllt in wolken
und schnurrbartgrau
der basaltpatio
nimmt uns auf

und das tor schließt nicht
und von der straße
immer weiser
dein lied

11. Februar 2023 22:54










Mirko Bonné

Nizza

Schon verlässt das Gedicht das Bleistiftstadium
Kaum dass ein Baum dort in der blauen Dünung treibt
Kein Kletterer im Berg kennt den Berg, aber du
Wie eine alte Seemöwe nachts bei Mistral

Kaum dass ein Baum dort in der blauen Dünung treibt
Klirren die Sternbilder, bis du dich in Bewegung setzt
Wie eine alte Seemöwe nachts bei Mistral
Nur ein Häufchen Kiesel und Zigarettenkippen

Klirren die Sternbilder, bis du dich in Bewegung setzt
Dann schreckt manchmal sogar ein Schatten zurück
Nur ein Häufchen Kiesel und Zigarettenkippen
Freude zu finden bleibt trotzdem der Sinn einer Passeggiata

Dann schreckt manchmal sogar ein Schatten zurück
Und sei er aus den verschwundenen Wäldern des Libanon
Freude zu finden bleibt trotzdem der Sinn einer Passeggiata
Bis die Wellenbrecher alles achtlos zertrümmern

Und sei er aus den verschwundenen Wäldern des Libanon
Kein Kletterer im Berg kennt den Berg, aber du
Bis die Wellenbrecher alles achtlos zertrümmern
Schon verlässt das Gedicht das Bleistiftstadium

*

17. Februar 2023 22:58










Christian Lorenz Müller

ER FRAGT NIE NACH SEINEM BOOT

Vor genau einem Jahr fing es an,
hörte etwas auf, er sagte nichts,
als ich ihm, das Mobilnyk noch in der Hand,
von Mutter und Zoja erzählte,
die in Charkiv im Keller saßen,
in Sicherheit, das konnte nur bedeuten,
dass draußen die Bomben fielen,
das Telefon ertaubte in meiner Hand,
als er schwieg, ins Wohnzimmer wechselte,
um den Fernseher einzuschalten,
er setzte sich auf die ausgezogene Couch,
zwischen unsere aufgewühlten Decken,
das quallig gewordene Gesicht seines Präsidenten
schwamm hinter dem Bildschirm vorbei,
giftig umklammerte der Tentakel
seiner Hand eine Tischkante,
Mutter und Zoja flohen noch am selben Tag
nach Ridnyj Kraj, auf die Datscha,
dort liegt das Boot,
das mein Mann gebaut hat, stundenlang
war er sommers draußen auf dem See,
er angelte Stille,
sie schimmerte in einem Eimer
den er abends in die Küche stellte,
Mutter freute sich immer, briet sie im August
zusammen mit Birkenpilzen,
vor genau einem Jahr fing es an,
hörte etwas auf, seit einem Jahr
hat mein Mann sich selbst am Haken,
ködert sein Schweigen aus den Tiefen
des Fernsehers, fragt nie nach Zoja,
nach Mutter, nach seinem Boot
und seinem See in Ridnyj Kraj.

24. Februar 2023 08:30