Christian Lorenz Müller
DU FÄLLST NICHT
Gleich neben dem Schreib-
tisch fenstert etwas. Beug dich
hinaus ins Blaue.
Der Wein fasst nach den
halb geöffneten Läden,
hakt sie an die Wand.
Lehn dich viel zu weit
aus dem Fenster. Du fällst nicht,
du schreibst ein Gedicht.
Hans Thill
Nach Pfingsten
Item waz eyn knabe van vierzehen jairen zu Heiligeroide mit syme fader und moder des mandag(es) na pynxsten (16. Mai 1429) und saede, wie hey van eyme boyme in eyne stecken an eyme zune gefallen were yn synen lyff und brach sich selver uß dem stecken, also dat yne alle syne yngeweyde uß seyme lyve geinck, und greiff der knabe dar und hielt syne derme in syne armen, bis hey heym quam, und en konde yme dat neman weder yn brengen und woirden vader und moder zu gedencken an die genade unser liever frauwen zu Heiligerode und geloiffden den knaben aldar und alsbalde sy die geloiffde gedaden, doy namen sy die derme und daden dy dem knaben weder yn und genaß der knabe des woil und is vader und moder mit yme zu Heiligeroide geweist und loiffden und danckten Marien.
19. Mai 2024 14:49Mirko Bonné
Aus den Rimbaud-Übersetzungen
Bannières de mai
Aux branches claires des tilleuls
Meurt un maladif hallali.
Mais des chansons spirituelles
Voltigent parmi les groseilles.
Que notre sang rie en nos veines,
Voici s’enchevêtrer les vignes.
Le ciel est joli comme un ange,
L’azur et l’onde communient.
Je sors. Si un rayon me blesse
Je succomberai sur la mousse.
Qu’on patiente et qu’on s’ennuie
C’est trop simple. Fi de mes peines.
Je veux que l’été dramatique
Me lie à son char de fortune.
Que par toi beaucoup, ô Nature,
− Ah moins seul et moins nul ! − je meure.
Au lieu que les Bergers, c’est drôle,
meurent à peu près par le monde.
Je veux bien que les saisons m’usent.
À toi, Nature, je me rends ;
Et ma faim et toute ma soif.
Et, s’il te plaît, nourris, abreuve.
Rien de rien ne m’illusionne ;
C’est rire aux parents, qu’au soleil,
Mais moi je ne veux rire à rien ;
Et libre soit cette infortune.
Mai 1872.
Maibanner
An den helllichten Lindenzweigen
Verendet elend ein Halali.
Geistliche Lieder aber schwirren
Da zwischen den Johannisbeeren.
Dass uns das Blut lacht in den Adern,
Sieh nur den Wirrwarr Weinberg an.
Der Himmel ist hübsch wie ein Engel,
Azur und Wogen werden eins.
Ich geh. Falls mich ein Strahl erfasst,
Krepiere ich halt auf dem Moos.
Dass man Geduld hat und sich langweilt,
Das ist zu simpel. Bah, mein Kummer.
Ich will dramatisch mich vom Sommer
Fesseln lassen an sein Glücksgefährt.
Dass ich an dir so, o Natur,
– Nicht einsam, ah nicht nichts! − oft sterbe.
Statt dass die Schäfer, guter Witz,
Halbwegs verrecken an der Welt.
Ich will mich mürber jeden Monat.
Dir gebe ich, Natur, mich hin;
Samt Hunger und samt allem Durst.
Und bitte dich um Speis und Trank.
Nicht das Geringste kann mich täuschen;
Lacht an die Eltern, wie zur Sonne,
Ich aber will zu gar nichts lachen;
Und frei soll dieses Unglück sein.
Mai 1872.
21. Mai 2024 17:42Christian Lorenz Müller
KLETTERROSE
Schläft im geschützten Winkel
bis die Nachtfröste vorbei sind,
streckt sich, schwänzelt ein wenig
an der Mauer entlang,
lässt sich Weichtriebiges
von der Sonne streicheln,
dann ein plötzlicher Sprung ins Blaue,
in den Himmel getriebene Krallen,
beim Zurückschneiden
faucht sie dir über die Haut,
sie striemt dich,
bis du die Finger von ihr lässt,
mit einem einzigen Satz
ist sie über dem Zaun
und fängt alle Blicke,
sie beißt dem Moment ins Genick
bis er duftend rot
als Blüte am Boden liegt.
Sylvia Geist
Veränderung
Sie ist so leicht geworden,
mein Schatten könnte sie
vom Dach retten und mir
ans Herz legen, eine hungrige
Rückkehrerin von Orten,
die ich scheue.
Zitternd fällt sie
in meinen Morgen ein,
nimmt frische Formen an,
die von Dunst, der Hügelkette,
die daraus auftaucht,
des Zugsignals (warm,
fast ein Muhen), des ersten
Schauers seit Wochen.
Ich nenne sie Eintagsfliege,
aber anders als ich
hört sie nicht mehr auf
Namen. Sie blüht nach
dem Vegetieren, hat Flügel
statt eines Mundes.