Sylvia Geist

Gerade jetzt

bellt ein Hund, draußen
wo die Vogelbeerzweige sich bewegen
gerade jetzt geht Wind, geht Schritt für Schritt
meine Mutter durch einen fernen dunklen Flur,
fast blind, wissend, gerade jetzt ist am anderen Ende
der Welt heller Tag, der Fluss nimmt die Wolken mit,
im Wald duftet noch der Regen vom Morgen, gerade
jetzt löst sich alles auf, anderswo für andere, nicht hier
gerade jetzt geht meine Mutter über einen fernen
dunklen Flur, zeigt mir das Vogelbeerblatt,
sein Grün, durch das gerade jetzt die Sonne kommt,
sein vollkommenes feines Gerippe, sagt, vergiss nicht
was das ist, gerade jetzt ist sie mit ihrem Großvater
im Garten, meine Mutter hat nichts vergessen, gerade
jetzt geht sie einen fremden Flur entlang und gibt
den dunklen Wänden Unterricht in Liebe, ihr könnt
sagt sie, nicht im Voraus trauern, gerade jetzt geht
Wind, am anderen Ende der Welt nimmt der Fluss
die Sonne mit, scheint das Vogelbeerblatt und löst
sich auf, fast blind von Morgen, in Bewegung, gerade
jetzt bellt ein Hund draußen im Wolkenwald, nicht hier

8. August 2025 03:39










Tihomir Popovic

granatapfel

das haus
windschief
verfallendes
versailles
feige
umgeh ich
die schlangen
brutgärten
bleib stehen
vorm familien
granatapfel
und lass ihn
hängen bis der
südwind kommt

zum gedenken an Tomislav Marinković

Tomislav Marinković, geboren 1949 im westserbischen Lipolist, war einer der bedeutendsten serbischsprachigen Lyriker unserer Zeit. Seinen ersten Gedichtband, Dvojnik (Doppelgänger), veröffentlichte er 1983. Zuletzt erschien Šta o nama misle andjeli (Was die Engel über uns denken, 2024). Seine Poesie wurde mit den wichtigsten Lyrik-Preisen in Serbien ausgezeichnet, u.a. mit dem Branko-Miljković-, dem Vasko-Popa-, dem Dis-, dem Desanka-Maksimović- und dem Zmaj-Preis. Marinkovićs Lyrik wurde u.a. ins Englische, Spanische, Russische, Portugiesische und Japanische übersetzt. Am 8. August 2025 ist Tomislav Marinković in seinem Geburtsort Lipolist gestorben.

10. August 2025 11:08