Andreas Louis Seyerlein

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6.08 – Vor Jahren einmal entdeckte ich nach stundenlanger Suche in den Archiven der Bayerischen Staatsbibliothek eine Fotografie auf einem Mikrofilmstreifen und ich wusste sofort, dass ich dieses Lichtbild besitzen musste. Ich bat eine Bibliothekarin, aus dem Material das Beste herauszuholen, höchste Auflösung, weswegen ich bald einen kleinen Stapel Papiers entgegennehmen konnte, den ich im Arbeitszimmer an einer Wand zum Bild zurücksortierte, zur Ansicht einer Strasse des Jahres 1934 präzise, einer Strasse nahe des Bellevue Hospitals zu New York. Staubige Bäume, eilende Menschenschatten, die Silhouette einer alten, in den Knochen gebeugten Frau, der Wagen eines Eisverkäufers, rostige Hydranten, die spröde Steinhaut der Strasse, zwei Vögel unbekannter Gattung, Spuren von Hitze, und ich erinnere mich noch gut, dass ich eine Zeile von links nach rechts auf das Papier notierte: Diese Strasse könnte Malcolm Lowry überquert haben, an einem Tag vielleicht, als er sich auf den Weg machte, seinem Körper den Alkohol zu entziehen. Und weil ich schon einmal damit begonnen hatte, das Bild zu verfeinern, zeichnete ich in Worten weitere Substanzen auf das Papier, Unsichtbares oder Mögliches. Einen Schuh notierte ich westwärts: Hier flüchtet Jan Gabriel, weil sie Mr. Lowrys Liebe nicht länger glauben konnte. Da lag ein Notizbuch im Schatten eines Baumes und ich sagte: Dieses Notizbuch wird Malcolm Lowry finden von Zeit zu Zeit, er wird es aufheben und mit zitternden Händen in seine Hosentasche stecken. Schon segelten fiebernde Wale über den East River, der zwischen zwei Häusern schimmerte, ein Schwarm irrer Bienen tropfte von einer Fensterbank, und da waren noch zwei Mädchen, barfuss, – oder trugen sie doch Strümpfe, doch Schuhe? – sie spielten Himmel und Hölle, ihre fröhlichen Stimmen. Ich gestehe, dass Daisy und Violet nicht damals, sondern in dieser letzten Stunde einer heiteren Arbeitsnacht ins Bild gekommen sind.

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13. März 2009 17:12










Andreas Louis Seyerlein

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2.15 – Gestern Abend, während ich Strukturen einer menschlichen Hand studierte, hab ich die Zeit aus den Augen verloren. Anstatt 22 Uhr, war es bereits sehr viel später geworden und ich hatte noch nichts Warmes gegessen, gleichwohl noch nicht nachgedacht über letzte Fotografien wie vorgenommen, über Lichtbilder, was sie bedeuten und wie ich eine dieser letzten Aufnahmen eines Menschen für mich entdecken und gestalten sollte, damit sie als authentisch betrachtet werden kann. Ich habe mir also überlegt, dass ich zwei kleine Stunden zusätzlichen Lebens rückwärts erfinden könnte, wenn ich mir schon Schiffe und Bäume auszudenken vermag in einer Weise, dass ich sie Tuten und Rauschen höre, warum dann nicht zwei oder drei Stunden Zeit für Arbeit vor der Nacht. Und so war plötzlich wieder früher Abend geworden. Ich räumte meine anatomischen Atlanten aus dem Weg, spazierte in die Küche, bereitete mir eine halbe Ente zu und fing an, über das Fotografieren nachzudenken. stop. Whiteout. stop. Alle Welt, auch die letzten Dinge sind zu farbigen Pixeln geworden. stop. Existieren in diesem Moment noch Menschen auf unserem Planeten, die während ihres Lebens niemals auf einer Fotografie abgebildet sein werden? stop. Wer endlich verhaftet Robert Mugabe?

bridge

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28. Februar 2009 21:01










Andreas Louis Seyerlein

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2.26 – Eine jedem Propellerkäfer zutiefst verbundene Leidenschaft ist, auf Bäumen zu sitzen und nach Winden Ausschau zu halten. Sie sind in diesem Warten und Schauen außergewöhnlich geduldige Persönlichkeiten. Wochen, gar Monate sitzen sie kaum wahrnehmbar in Gestalt kleiner Zigarren auf knorzigen Ästen, Stämmen und Blättern herum, indessen sie ihre Augen stets geöffnet halten, blaue, sehr blaue Augen, selbst wenn sie schlafen, was nicht ganz sinnvoll zu sein scheint, weil doch heranwehende Winde eher zu hören als zu sehen sind. Wenn man nun einen Propellerkäfer bei seiner leidenschaftlichen Arbeit, insbesondere den Präludien seiner Arbeit beobachten möchte, sollte man geduldig sein und immerfort an seiner Seite, weil man nie vorhersagen kann, ob ein Wind, der sich näherte, unserem Propellerkäfer gefallen wird. Manche Winde, so seltsam das erscheinen mag, noch feinste Stürme, die vom Meer her kommen, lassen unseren Propellerkäfer völlig kalt, während bereits die leiseste Ahnung ganz anderer Winde, heftigste Erregung erzeugen kann. Dann, von einer Sekunde zur anderen, ändert der Propellerkäfer seine Farbe, ob er nun will oder nicht, er sieht jetzt ein wenig so aus, als würde Feuer in ihm brennen. Seine Füße indessen haben kleine Zehen ausgefahren, Phantasien der Natur, rein nur zur Verankerung ausgedacht, weil der Propellerkäfer sich sofort wild entschlossen mit jedem seiner Propeller gegen den Wind stemmen wird. Stürme, gerade Stürme will er fangen. So sitzt er mit geschlossenen Augen hinter pfeifenden Rotoren bebend und knistert und wartet, wartet bis all das wilde Wetter vorübergezogen sein wird. Der Ordnung halber sei folgendes noch rasch gemeldet: Propellerkäfer sind friedvolle aber doch gefährliche Wesen, sobald sie aufgeladen sind. Mal haben sie sechs, mal acht, mal zehn Propeller, die sie je in ihrem Leib verbergen, um für Wochen, für Monate wieder zur Baumzigarre zu werden. Jetzt hören wir sie leise und zufrieden knallen.  

 

propeller

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14. Februar 2009 06:30