Christine Kappe

aus 97

Unser Zimmer ist leer
Ausgehöhlt von einem Tag ohne Heizung
Es kann nicht genug Stille um uns herum sein
Ferne Klaviere bestätigen das
Der plötzliche Glockenschlag

Wie ungeheuer schwer ist diese Glocke
Und wir –
Messen dem Zeitvergehen eine Leichtigkeit zu, die es nie besessen hat
(Es sind übrigens immer die nahen Glocken, die zuerst aufhören zu läuten
In der Ferne schlagen sie länger)

Heidemarie* auf der Straße getroffen
Ich sah schlimm aus: wollte mir gerade ein Bier vom Kiosk holen
Ungekämmt, schlunzige Klamotten mit Müllresten
(Der Beutel war mir gerissen)
„Wohin gehst du?“
Zart nimmt sie mein Gesicht zwischen ihre Hände

„Zu Männern von Frauen
Die mir zeigen wollen, was sie geschrieben haben“
Momente, in denen das Leben anhält
Und einem eigentlich klar werden müsste
Wie richtig alles war
________________________

* Gibt es Dich noch?

11. April 2021 23:36










Christine Kappe

Die Leichtigkeit der früheren Jahre

das Problem ist gar nicht, dass sie nichts verkaufen, sondern, wie sie die Zeit rumkriegen, ohne verrückt zu werden, abgesehen davon, dass ich mir von den Typen gar nichts, noch nichtmal Geld andrehen lassen würde

der Kaufhausdetektiv ist heute fast verzweifelt, als ich das falsche Datum auf den Verhaftungsantrag schrieb, aber mehr als draufzeigen und stöhnen konnte er nicht

nachts haben sie in der Birkenstraße eine Bombe entschärft und wir uns zu Oma Emmi geflüchtet, da ist es immer viel zu warm, aber durch das theaterhafte Getue der Kinder („Oh, ich schwitze!“) wird es unwahr wie der Schlaf

ich brauch grundsätzlich eine neue Erzählstimme für tagsüber
und nachts werde ich dichten, bis Yo klingelt

für Gerhard

31. Dezember 2020 11:00










Christine Kappe

GEGEN DIE DIR

Tatsächlich gibt es Leute, die gegen dir-Maßnahmen demonstrieren. Und ich schreibe extra nicht „gegen die dir-Maßnahmen“. Denn das klingt, als wäre ich gegen die, die gegen die dir-Maßnahmen wären. Und ich bin ja weder gegen noch für. Ich bin für das Ende des Dilemmas. Und zwar nicht wegen der dir-Maßnahmen, sondern wegen dir.

Wer behauptet, er könne das unterscheiden, irrt natürlich. Doch es fühlt sich besser an, wütend zu sein, als zweifelnd. Verzweifelnd.

Mit dir würde ich jetzt gern in einem Raum sitzen, bei einer Tasse Tee. Die Füße unkonventionell hochgelegt. Und in aller Ruhe über alles sprechen. Nicht merken, wie die Zeit vergeht, weils schon dunkel ist. Und dann legst du dir ein buntes Tuch um die Schultern. Und siehst aus, als würdest du morgen wiederkommen. Aber diese Tücher täuschen.

31. Mai 2020 08:19










Christine Kappe

Es ist alles sinnlos geworden

Es ist alles sinnlos geworden
Schon das Datum stimmt nicht
Ich bin wieder nachhause gefahren deswegen
Einen Kuss wolltest du mir nicht geben
Deine Mutter heute morgen mit dem Krankenwagen weg
Verdacht auf Corona
Dein Vater versteckte die Haustürschlüssel und verstand das alles nicht
Dabei untermauerten wir doch seine Verschwörungstheorie
Mit Gesichtsmasken und Einmalhandschuhen
Jetzt wartest du dort, dass die Straßenlampen ausgehen
Vorhin die ganze Zeit nur aufs Navi geglotzt
Als ob du den Weg zu deinen Eltern nicht wüsstest
Zu jedem Abzweig noch eine Geschichte gehabt
Während Google nur wusste, wieviel länger alles dauert
Im Vergleich zum direkten Weg
Ins Nirwana

30. März 2020 03:28










Christine Kappe

Ostende

Menschen und Möven, April 1993
(Abtönfarbe auf Pappe, 80 x 120, Original durch Unwetter 2009 zerstört)

26. Januar 2020 20:49










Christine Kappe

Die Träume sind es nicht

Die Träume sind es nicht
Vor allem wenn man in der Jetztzeit die Bornumer Straße entlangfährt, mit dem Rad
Was bringt Menschen dazu, hier zu wohnen?
Das muß absolute Verzweifelung sein

Doch so verzweifelt sieht der junge Mann gar nicht aus
Er schiebt einen Doppelkinderwagen in Richtung Baumarkt und lächelt dabei
Aber nicht die Kinder an
Und auch nicht mich

Die furchtbare Luft ist es nicht
Windstille, Nieselregen, 12 Grad Celsius, kein Blatt an den Bäumen, kein Hauch
Des Lebens
Niemand ist wirklich
Hier
Niemand
Und… wo will er hin?
Wo, verdammt nochmal, will er hin?

13. Januar 2020 01:08










Christine Kappe

2 Programme

Offenbar bin ich doch offen
Ich konnte ja der einen Schulbegleiterin nicht auf den Pelz kucken
Hatte sie schon «wegsortiert»
Doch beim Weihnachtsbasteln ist sie
mir unglaublich sympathisch aufgefallen
als sie die Augen verdrehte bei
«3 Tage basteln»
Und jetzt habe ich sie einfach mal angesprochen
Und ihr ins Gesicht geschaut
Es ist irre
Ich meine nicht die Tatsache, dass man Leute verurteilt
(ich glaube, das ist Selbstschutz)
sondern dass im Hintergrund noch ein anderes Programm läuft
was diese Leute im Null Komma nichts wieder auftaut!

23. Dezember 2019 23:11










Christine Kappe

Die verrückten Mütter

Die verrückten Mütter
die ihre Kinder in den Ferien organisieren
mit Smsen abends um halb 10
und dich loben, du wärst so unkompliziert
deswegen will ich nichts sagen
sonst stimmts ja nicht mehr
„Papa“ kann kaum laufen
aber zum Rauchen spätabends noch rausgehen
Wir sind schon selbst so grenzwertig
aber nur 4, das reicht ja
Jusa nervt mit einem Stempel
der noch ins Programmheft muss
und dann steht da mein Name drauf und“Kaffee und Kuchen“
Ein älterer Herr erzählt uns währenddessen seine Lebensgeschichte
seine Augen liegen in tiefen Höhlen
und zum Schluss zieht er einen Hut, den er nicht aufhat
Aber diese Gespräche mit den Müttern der Freunde unserer Söhne
begleiten uns im Hintergrund…
auch wenn die Telefonate mit den Freundinnen immer länger werden, wenn wir uns verabreden
die Entfernung, die Krankheiten, das Wetter, aber schön
und das Gefühl: WIR machen die Kunst, die unsere Zeit festhält
nicht diese angesagten, oberflächlichen Nicht-auf-den-Punkt-Komma
Weißt du noch, wie Lennie einen Film erzählte
und seine Begeisterung, die mich mitriss
Doch ob der Film wirklich gut war
oder bloß die Schauspieler oder die Musik gut aussahen
Manchmal ist das so, wer will das beurteilen, hauptsache es katapultiert dich
diese Hoffnung auf etwas wirklich gutes mal hinaus
Und so war es ja, ein paar Lebensjahre eingebüßt, ein paar Plakate verwittert
extra ein s-w-Foto gemacht, damit klarist:
da gehts noch weiter. Und dann derselbe Lennie, wirklich diabolisch, wirklich anders
als alle, eine Welt aufspannte, größer als die Welt
in der wir lebten, vom Tod unseres Chefs erzählte
Nicht weil er weniger verrückt war, sondern weil er einfach mehr trinken
und mehr vertragen konnte von: einerseits dem Elend und andererseits den Bonzenvillen
von denen er sich auch eine gekauft hat
zwischen Autobahn und Baggersee
Da gibt es doch gar keinen Ort, um sich umzubringen, aber genau das wars
woran Tschatta gestorben war, … bis hin zum Namen für unser Kind
der uns nicht einfallen wollte, und den wir aus dem gleichmäßigen Regen heraushörten
der im Oktober 2003 einsetzte und seitdem nicht mehr aufhörte, aber
Wenn wir hierwären im Dasein…
vielleicht 2020 nochmal

19. Dezember 2019 09:37










Christine Kappe

Der Ganztag

Warum ist dieses Wort so schrecklich?
Es kommt weniger häufig in der Gegenwartssprache vor als z.B.
Ganzleinen, und für Ganzleinen hätte ich ja noch Verständnis
Es kommt bisher noch 65.536 mal weniger häufig vor als das Wort der
aber diese Zahl ist rückläufig und bald wird der Ganztag uns verschlungen haben schon deswegen, weil jeder Tag ganz ist
und wir die Länge nun mal nicht ändern können

Der Ganztag ist natürlich auch nur ein Halbtag
weil er nicht den ganzen Tag da ist
Sonst müssten wir ja auch ein Ganztag sein
Es sind morgens aber andere Leute da als vormittags
und nachmittags noch wieder andere
Das Wort Ganztag spielt uns also nicht nur eine nicht vorhandene Realität vor
sogar Kinder werden zu einer Zeiteinheit
Und da mach ich nicht mit
Das finde ich unmenschlich

(Der Ganstag
Du meinst, ich habe mich… verlesen, und es ist eigentlich der Ganstag gemeint?
Dafür kann ich mich schon wieder erwärmen
Ich mag Vögel
Doch die meisten denken doch nur
Wie lange / wieviel Grad / füllen / zerlegen
Das ist mir zu saisonal, jetzt kurz vor Weihnachten
Spätestens im Januar popt wieder die alte Frage auf
Und nichts ist gewonnen)

9. Dezember 2019 23:18










Christine Kappe

Silberfische I

Heute waren Handwerker im SKG
(Gestern auch
Aber da wusste ichs nicht
und plötzlich standen fremde Männer im Raum
Obwohl ich abgeschlossen hatte!)
Immerhin war ich heute vorbereitet
Aber nicht auf den Lärm
Doch als die Kinder am Ende gingen, meinte der eine: „Endlich Ruhe!“
Ich fragte mich, warum die ohne Atemschutzmaske in den Keller durften
Und sah in der Pause, dass das Warn-Schild von der Kellertür entfernt war
Das sind so Sachen, die einen echt gruseln
Ich sagte dann noch: „Aber im Keller ist doch Schimmel, und die viele Silberfische….“
Sie winkten ab
„Kein Problem. Wir machen die Löcher zu, da kommt nichts durch.“
Auf dem Lehrerinnenpult (!)
Finden wir Berge von vergammeltem Kuchen
Wahrscheinlich wollte sie den auf Klassenfahrt mitnehmen
Es wurde nicht geputzt
Die Klos stinken seit Montag bestialisch
Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel:
„Der Boden bleibt dreckig, wenn die Stühle nicht hochgestellt sind.“
Ich versteh das nicht
Nur am Abend, tun mir die Knochen weh
Und die Silberfischchen in meinem Bad
Sind nicht solche mutierten Monstren
Vielleicht sind es bloß Goldfischchen, wer weiß

21. November 2019 22:47