Hendrik Rost

Auch ich bin begegnet worden

Und es geschah unter irgendwie gespenstischen Umständen. Ich lebte damals in Berlin, quasi inkognito in einer Wohnung, die von der Solitude unterhalten wurde. Keiner hatte meine Nummer, ich lebte mehr oder weniger im Zustand literarischer Verblödung vor mich hin und in den Tag hinein. Das Telefon klingelte und ich nahm ab: „Kling hier“, kam es aus dem Hörer. Ich war baff und sprachlos. Kling redete, und es wirkte so, als hätte er tatsächlich meinetwegen angerufen. Ich hörte ihm zu, er sprach von Heinz-Ludwig Arnold, der irgendetwas von mir wollte. Ich verstand nicht, was. Kling redete und erzählte mir, wie Lyrik sein müsse (ich habe es leider vergessen). Das Gespräch dauerte sicher eine halbe Stunde, mitten am Tage. Dann verabschiedete er sich. Wir verblieben in Verwirrung. Dann legte ich auf und sprang in die Spree.

4. April 2011 11:43










Hendrik Rost

Ex negativo

Wenn mein Vater eine Meinung
vertritt, frage ich mich, was
soll das? Er bekommt ja nicht
einmal Geld dafür.

Mein Vater gehört zu den weißen
Jahrgängen. Den Krieg hat er
als Junge erlebt. Flucht
war ein Kinderspiel.

Mein Vater hat kein Parteibuch
mehr. Seine Firma sitzt jetzt
in Osteuropa. Zu Silvester
wünsche ich ihm viel Erfolg.

Ich meine damit: Bleib, Vater,
flüchtig, sag mir etwas, das ich
ablehnen kann, ich bin dein
Produkt. Du hast überlebt.

28. Januar 2011 09:58










Hendrik Rost

Was

für ein tolles Gedicht!
Allein „Nerzmade“, „Vorwärtsmuskel“!

19. Oktober 2010 14:13










Hendrik Rost

Liebe ist nicht tot

Wenn wir Tiere essen,
wollen wir an Liebe teilhaben.
Nicht der zwischen Menschen,
sondern der trotz
allem.

Man kann das spüren,
wenn man sich schneidet,
zuerst der Schnitt, dann
Blut.

Oder man merkt manchmal,
dass sehr viel Altes
in der Luft liegt,
und hat keine Angst,
da nichts stirbt.

Schon der leere Teller übersteigt den Verstand.

23. September 2010 21:18










Hendrik Rost

Junkie-Small-Talk

Ampel an der Moltkebrücke in Lübeck:
– Boah!, das Zeug hat meine Augen ganz schwammig gemacht. Ich musste erstmal nach Hause gehen und Mittagsschlaf machen. Vorher hab ich noch nen Döner gegessen.
– Jo, ich war auch völlig fertig.
– Man soll so was auch nicht gleich so viel nehmen.
– Ich nehm das nich mehr. Ich will ja noch meine Rente erleben.
– Das wird geil!

2. Juni 2010 14:13










Hendrik Rost

Stay tuned

Das Einzige, das zählt
im Leben,
ist der Beginn des Lebens,

alles andere ist
Zeitschleife
und Abwasch,

für manche
außerdem Erfolg
oder Sprachgewandtheit.

Wann es beginnt,
ist vollkommen offen –
für die einen mit Befruchtung,

für andere
während die Wagen
sich ineinander verkeilen.

Warte nicht
auf das eine oder andere:
Du wirst abgeholt.

Im Strampler oder
in der durchgesessenen
grauen Lieblingshose,

die langsam
für diese Welt
zu eng wird.

22. April 2010 11:12










Hendrik Rost

Keimzelle

Was Macht ist, fragst du
mich, ausgerechnet, aber
das macht nichts, eine Frage,
die niemand beherrscht
vielleicht. Seit wir uns
kennen, ist alles Jahre her,
was kränkt und was weiß
ich, aber es bleiben die
Mechanismen, andere
für dumm zu lieben.

2. März 2010 15:37










Hendrik Rost

Zufallshaiku

Gott ist in allem
Beispiele beweisen nichts
Demut und Kampfgeist

25. November 2009 14:53










Hendrik Rost

Alte Meister

Auf den Wanderdünen der
Vielfalt sammelt sich Unruhe,
hinterm Horizont lodert Distanz.

Bei Gott ist das Wetter,
wenn es in den Augen hagelt
oder der Stress brandet.

Vieles kennt man durch Atmen,
zum Beispiel Umwege links
und rechts an Statuen vorbei,

ohne Körperkontakt mit sich selbst.
Wenn das Verbotene stört,
bedank dich bei den Verästelungen

der Imitation. Veduten aus Krisen-
zeiten wehen im Wind. Museen
sind der Kardinalfehler.

9. November 2009 19:23










Hendrik Rost

Nachsaison

Früh

Ich parke vor der Deutschen Bank. Es ist dunkel und Herbst. Manche haben Ferien.

Die Ostsee rollt von Finnland in die Lübecker Bucht. Polare Luft und sternenklarer Himmel. Die Uhr an der Promenade zeigt 6:50 an, 4 Grad und 3 Beaufort. An der Seebrücke sehe ich Schaumlinien. Im allerersten Licht steigt ein Trupp Möwen auf und landet auf dem Dach des Maritim Hotels. Im Frühstücksraum sitzen See- und Seelenromantiker, die auf den Sonnenaufgang warten, der sich über Boltenhagen ankündigt.

Die Wellen kommen in Serien. Ganz langgezogen und drei, vier hintereinander. Ich springe von der Seebrücke und paddle auf das sich rasch abkühlende Meer. Alles ist elementar: Die arthritischen Walker auf der Seebrücke übersehen mich, der Gänsesäger da vorn in den Wellen ignoriert mich, die Ostsee schmeckt salzig.

Zwei Stunden später laufe ich an der Wasserlinie zurück. Eine Gymnastikgruppe am Strand macht angedeutete Kniebeugen. Ein Kreis wird gebildet, linksherum, rechtsherum.

Zuhause hänge ich den Anzug zum Trocknen auf den Dachboden. Die greise Nachbarin kommt schnaufend die Treppe herauf. „Wenn man alt ist“, sagt sie, „fragt man sich, wo all die Jahre geblieben sind.“

Was soll ich sagen? Jeder Trupp Möwen ein Jahrzehnt. Die Jahre liegen auf einem Konto bei der Deutschen Bank. Sie sind dunkel und herbstlich. Sie haben Ferien und sie rollen von Finnland heran, ganz früh im leichten, empfindlich kalten Wind. Sie sind elementar. Sie ignorieren einen. Sie schmecken salzig.

14. Oktober 2009 14:51