Hendrik Rost

Rites de Passage

Wir werfen Heringe auf die Terrasse
und hoffen, Albatrosse werden sie holen.
Bitterkalt ist es heute, wir fahren

zum Einkaufszentrum, lassen kurz
das Kind im Wagen, es will weiter Fleurs
hören. Zurück auf dem Parkplatz, da steht

eine Traube Menschen am Auto, Polizei –
sie holen einen erfrorenen Hund
aus dem Wagen neben unserem.

Das Kind wedelt mit den Armen,
imitiert die gigantischen Antarktissegler.
Sprache nutzen wir fast nur, um

über Verständigung zu spotten, Blubb,
oder Meinungen, vermischt mit Fakten,
als Grimasse aufzusetzen: Demütigung

und Verschleiß. Wir müssen Furchtbares
aushalten, austeilen, um den Alltag zu genießen.
Seit dem Ende der Sterndeuterei

wird unsere Liebe von Matrosen bedroht.
Wir sind träge, ein gemaltes Schiff
auf einem gemalten Meer. Der Wind

bläst gut und weiß schäumt die Flut.

(neue Version)

6. Januar 2017 15:29










Hendrik Rost

Silvester und so

Die toteste Zeit im Kalender,
wir hängen Meisenknödel
in den Schmetterlingsflieder.
Ein heller Stern steht anonym
südlich überm Garten.
Im Hochnebel hollern Gänse.
Pica pica schwadroniert
durch den Jahreswechsel –
ihr Schwarz weiß es schon.
Der Garten rotiert um den Knödel.
Ich halte mich am Kraut
der Goldrute fest; Sentimentalität,
Fett und Getreide vermengt.
Der Abend wetzt seine dunkle
Klinge am nicht zu leugnenden Jahr.
Es riecht nach Wolken.
Wir fliegen auf, auf zu den Meisen.

1. Januar 2017 19:07










Hendrik Rost

Adaption

Ein Ort, den es schon gar nicht mehr gibt und den ich nie vergessen kann, ist der Arbeitshühnerstall von Rutger Kopland. Hier in diesem Verschlag in seinem Garten, einem langen und schmalen halb verwilderten Stück der Niederlande, saß er in einem vollständig durchgesessenen Ledersessel. Es gab einen öligen Schreibtisch, Bücher an den Wänden und Zeitschriften, die nach einem komplexen Chaosprinzip aufgeschlagen auf jeder freien Fläche lagen. Drei große Fenster zeigten nach Westen, Norden und Osten. Ein uralter Holzofen bollerte halb übellaunig, halb gutmütig. Kopland sprach immer mit Bedenkzeit – er hörte schlecht, aber er wusste auch, dass es wichtig ist, sich jede Antwort kurz durch den Kopf gehen zu lassen. Wenn er von anderen Autoren sprach, dann aus Bewunderung. Wenn nicht Bewunderung, dann Respekt – vor den Hühnern, die früher hier gegackert haben, dem Bahndamm hinterm Haus, auf dem die Menschen dahinreisen, dem Abdruck eines zwiespältigen Gedichts in Ausgabe XX der Literaturzeitschrift von 1987. Für den professionellen Traumforscher ist es selbstverständlich ein Stilprinzip, die calvinistische Vernunft und die nächtlichen, mitunter bedrohlichen Gespinste, eigene und die anderer, wertzuschätzen. Dieses lebenslange Lesen und Schreiben so vor sich hin ist sicher eine Remedium gegen den allgemeinen Hang zur Ablehnung. Ich hatte die ganze Zeit das seltsame Gefühl, eine lange und tiefgreifende Kränkung zu erleben, die mit dem Leben zusammenhängt und seinen Anforderungen, Fehlschlägen und literarischen Hackordnungen. Und diese Kränkung war allmählich zu einem Teil des Erfolgs geworden, zu zahllosen eigenen Büchern und zu einer Grundhaltung, die aus einem alten, sterbenden Dichter einen bewundernswerten Schelm macht.

9. Dezember 2016 14:25










Hendrik Rost

Die Luftfreunde

Deine Freunde schreiben dir Wolken
aus den Ländern, in denen sie vielleicht
wohnen. Dem Regenland und dem Land
der Physik. Sie schicken in Tropfenform
kleine Gemeinsamkeiten: das Wasser,
das den Weg allen Wassers geht.
Sie schreiben dir, das Ende endet nie.
Es beginnt an einem beliebigen Punkt
in den Luftbriefen oder den Kapillaren
der Bäume. Du kannst uns ja lesen,
schreiben sie in Kumuli. Lies bitte,
was wir über die Wiese hinterm Haus
wissen. Lies auch den Angstwald
zwischen den Schulterblättern. Schreib
zurück von deiner Suche mit dem Gesicht.
Deinen zweifelnden, wissenden Augen,
denen wir trauen. Hier, das Liebeswürdige.
Deine Freunde schreiben dir Leben,
schreiben, weil es dich gibt. Ameisenähnlich
prickelt’s dich im Fuß – dein Herz,
es erhebe sich. Sie schicken dir Zuversicht
ohne Grund, diese Freunde. Diese Luft,
in ihr findest du Wetter, Briefe und Physik.
Du kannst ja lesen. Du kannst ja, wissen Wolken.

6. Dezember 2016 13:29










Hendrik Rost

Tweet

Der Polit-Pirol zieht ein in die Hauptstadt
der Abenddämmerung, alles ist wieder aus
für immer. Er zwitschert auf dem Schwert
des Washington Monuments, in den Ort
gerammt wie die Nadel eines Sammlers
in ein seltenes Exemplar, halb verheert
von den Rassenriots der 60er. Der Himmel
überm Kapitol ist immer wolkenlos klar,
ein Hologramm von infinitem Format.
Auf der National Mall stehen greise Vietnam-
veteranen, beten: MIA – Prisoner of War.
Bleibst du etwas zu lange stehen und schaust,
huscht ein Cop an und fragt, was du willst.
Schütze deinen Trotz, wäg ab, was du singst.

9. November 2016 09:26










Hendrik Rost

Kaltes Amen

Die Sowjetunion gab es noch damals und die Sorgen der weißen Mittelschicht in der Hauptstadt, soweit ich für ein Jahr eingeladen war, sie zu teilen, kreisten um die Frage, wer in dieser Woche wann zum Psychiater geht. Jeder für sich. Mein Vorschlag, einmal miteinander zu reden oder gemeinsam zu demselben Therapeuten zu gehen, fiel auf vollkommenes Unverständnis, nein, wurde eher als ein Angriff auf die Hoheitsgewalt des Einzelnen über seinen Kummer (den immer andere verursachen) angesehen.

Jeden Abend gab es Salat, der einzeln in kleinen Schüsselchen für jeden vorbereitet wurde. Meine Gastmutter entdeckte an einer ihrer Tomaten während des Essens dann einen Stielansatz, den ich in meiner ganzen Unbekümmertheit beim Zubereiten übersehen hatte – ihr Gesicht entgleiste. Als ihr Mann versuchte, sie zu beschwichtigen, warf sie die Tomate quer über den Tisch in seine Richtung. Sie klatschte an die Wand, und wir Kinder aßen still, wie betend vorübergebeugt weiter, während die Eltern sich enthemmt anbrüllten. Auch an diesem Tag beendeten wir das Abendessen mit wild schlagendem Herz, dröhnenden Ohren und der Gewissheit, dass wir uns von Gewalt ernähren.

An Thanksgiving kamen Verwandte vom Land. Virginia war ein anderer Planet, südlich der Hauptstadt. Der Mann trug ein Truckercap und Dickies Arbeitshosen. Er sagte Sätze wie: He don’t care, und brachte Steaks von selbst erlegtem Wild als Gastgeschenk. In der Mitte des Tisches thronte ein Truthahn, groß wie ein dreijähriges Kind, und wartete geduldig darauf, dass wir unser Gebet, das einzige des gesamten Jahres, zu Ende gesprochen hatten, um ihn zu zerlegen.

Mein Gastvater präsentierte mich, den deutschen Gast, irgendwie als Beleg seiner heldenhaften Vergangenheit in der Armee. Er hatte sein Dienst während des Koreakriegs mit einer Blinddarmentzündung in einem Heidelberger Militärhospital verbracht. Den Schneid hatte er sich äußerlich bewahrt und wenn er abends zunehmend betrunken seinen immer gleichen Crooner-Songs lauschte, glich er dem Reagan aus Der Tod eines Killers. Und so wie Reagan diese Rolle später bereute, so würde dieser Mann, der schon zwei Familien zerstört hatte, morgen für wieder vom ersten Moment an versuchen, jeden von uns so lange zu erniedrigen, bis er gestärkt für einen Tag im Büro das Haus verlassen konnte.

Der Mann aus Virginia sprach mit später beim Digestif, Bier, an: Er komme eigentlich nur in die Hauptstadt, wenn es sich nicht vermeiden ließe. Zum Essen etwa, als wäre dies ein Ersatz für einen Jagdausflug. „Junge“, sagte er, „das ist nicht Amerika hier.“ Und fügte hinzu: „Die Leute leben in ihrer eigenen Welt: fancy houses, fancy problems.“

Meine Gasteltern sprachen dann doch noch mit einem Therapeuten: Sie brüllten von verschiedenen Stockwerken per Konferenz in die Hörer und baten den zugeschalteten Shrink, dem jeweils anderen auszurichten, wie nasty, also gemein er wäre.

Ich blieb in diesem Haus zu Gast, statt auszubrechen, vielleicht nach Virginia oder Amerika, weil ich den anderen Kindern nicht zeigen wollte, dass man hier nicht leben kann. In so einem kapitalen Luxusproblem.

7. November 2016 12:00










Hendrik Rost

Trampeltier

Jetzt kurz vor der US-Wahl schrieb ich meiner Gastmutter von 1987/88, dass ich mich noch gut erinnere an mein Jahr in Washington, D.C., wo ich im Schatten des Kapitols in einem alten, halb fertigen Haus zweier Regierungsangestellter lebte. Nachts flackerten die Suchscheinwerfer der Helikopter durch die Gassen auf der Suche nach Einbrechern. Bush Senior löste Reagan ab. Ich spielte abends auf dem Asphalthof einer Schule in der Nachbarschaft Basketball mit denen, die gerade da waren, bis meine Gasteltern es mir verboten, wegen der offensichtlichen Gefahr, als einziger Weißer da rumzulungern. Also lag ich auf dem Bett in meinem Zimmer und lauschte die Grillen, die seit 17 Jahren zum ersten Mal wieder aus der Erde gestiegen waren. Pausenlos zirpten sie lauthals in den Wipfeln der Alleebäume, im Fensterrahmen rotierte ein Ventilator. Ich schrieb ihr, wie es ihr damit ginge, dass ein Hallodri (a rogue) Präsident werden könne. Sie antwortete postwendend, berichtete, schon vorab gewählt zu haben, und hoffte, ebenfalls einmal in einem progressiven Land (wie Deutschland) leben zu können, in dem eine Frau die Regierung führe. Sie lebt allein mit ihrer Tochter im jetzt fertigen Haus. Zwei Ehen mit Alkoholikern sind Geschichte. Mein Gastvater seinerzeit war glühender Anhänger der Todestrafe, sein Sohn, mit dem ich das Zimmer geteilt habe, war tiefgehend verunsichert, antwortete auf Fragen immer mit Minuten Verzögerung und hatte mir zu Ehren vor meiner Ankunft den Münsteraner Dom aus Streichhölzern in beachtlicher Größe nachgebaut. Sein bester und einziger Freund war Manni, ein Vietnamveteran, der in einer Vorort-Mall einen Laden für Militärmodelle betrieb. Meine Gastschwester hatte sich in einem kunstvoll vermüllten Zimmer verschanzt; in der Mitte ein Plattenspieler, auf dem immer wieder Fugazi rotierte. Im Stockwerk darunter schrien sich meine Gasteltern an, der Fernseher lief, eine amerikanische Debatte.

4. November 2016 12:55










Hendrik Rost

Nuss

Vor dreißig Jahren habe ich zum ersten Mal ein Gedicht geschrieben; im Bus auf dem Weg zur Schule. Aufgehoben habe ich es nicht, aber es war wohl wie alles, was ich bis vor zehn Jahren geschrieben habe, im Wesentlichen Mumpitz. Mit nichts habe ich mich so ausgiebig und lange beschäftigt wie mit fremden und eigenen Gedichten. Und trotzdem könnte ich kaum etwas dazu darlegen. Außer: Relative Erfolglosigkeit und die Scham über den ständigen Verrat der allgemeinen Geheimnisse ergeben einen seltsamen kreativen Schub. In einer Welt, in der es entweder Wackelpeter und Konzinnität gibt oder kluge Stacheldrahtgeflechte suche ich nach Gedichten, die aus der Zeit in die Zeit gefallen sind.
„Es ist das Gegenwort, es ist das Wort, das den Draht zerreißt …“ Ihr wisst schon. Dreißig Jahre eine Kladde auf den Knien, irgendetwas kritzelnd – so gesehen ist es eine lange Zeit. Andererseits reicht sie für die Vorbereitung auf das Unheimliche kaum aus. Aber da will ich hin: jwd.

Für Sylvia Geist

2. November 2016 09:01










Hendrik Rost

Bob Dylan – aus: Blonde On Blonde

Then time will tell who has fell
And who’s been left behind
When you go your way and I go mine.

The judge, he holds a grudge
He’s gonna call on you
But he’s badly built
And he walks on stilts
Watch out he don’t fall on you.

13. Oktober 2016 12:41










Hendrik Rost

„Gorillas in unserer Mitte“

Die Elbe schaukelt langsam den Tag
in den Schlaf oder sie wägt eine Idee
ab, die ihr eben auf der Welle lag
und in den Sand fiel: endlos viele
Universen aus Körnern, ein Gries
aus Plastik, allmählich zerschliffen.
Im Abenddämmern der Containerriese,
sprengt die Vorstellung von Schiffen;
wie ein Opernhaus an der Skelettküste.
Noch nicht im Bild sind tanzende Affen,
als erwarteten die Sinne einen Test:
Aufmerksamkeit ist nach oben offen.
Da, Klaus’ Kopf, maskiert als Kiesel.
Einst wogten hier Seegraswiesen.

21. September 2016 13:34