Hendrik Rost
Ich wende den Stamm des Baums, der letztes
Jahr im Garten stürzte. Unten fällt eine Schicht
Asseln von dem Holz, das sich schon zersetzt.
Alles Winzige flieht schnell aus dem Licht,
langsame Würmer, flinkere Tausendfüßler
und Sammetmilben, die wie eine Markierung
durch das Gemenge sputen. Der Künstler
wollte Älteres anders äußern. Verwandlung
beginnt mit dem Fallen und das Entstehen
neuer schwarzer Erde ist Spuk von Fressen
und Ausscheiden und wieder Verzehren …
Und dazwischen wie von der Leine gelassen
die roten Milben. Der Baum ist für die Viecher.
Sturz wird zu Boden, Blätter werden Bücher.
Für Mirko
9. September 2016 12:53
Hendrik Rost
Sprache fällt immer weiter aufs Land.
Fällt wie Eichkatzen aus den Bäumen.
Im Geäst leuchten alternde Pflaumen,
abends ruht alles, auch der Verstand.
Die Kinder waren Phrasen erlegen
in der Stadt beim Museum der Ideologien.
Müde Rückkehr, gesammelte Kastanien.
Fast hätte ich mich Fakten ergeben.
6. September 2016 14:18
Hendrik Rost
Aus dem Nichts heraus etwas Vergebliches zu schaffen, das ist ein sonniger Nachmittag am See. Nach dem Schwimmen weit hinaus zu den Barschen und den Florfliegen, die auf der Wasseroberfläche gelandet sind, schlenze ich mit vor Vitalität kribbelnden Extremitäten über den Rasen am Ufer und mache an einer Kinderreckstange Klimmzüge. Da ich mich stark fühle, mache ich gleich ganz viele. In der Netzschaukel daneben stehen zwei ungefähr 8-jährige Jungs und sehen zu. „Der kann das gut“, sagt der eine zum anderen und fügt hinzu: „dabei hat der gar keine Muskeln.“
29. August 2016 11:32
Hendrik Rost
Erinnere dich an das, was an
dich erinnert, das Gefühl von
Kühlergrill nach deinem ersten
Unfall, die kurze Flugphase,
als die letzte Stufe doch nicht
die letzte war, erinnere dich
an den überlebenden Zwilling,
der sich an dich geklammert hat,
als ging es darum, in einer sehr
großen Welt nicht das Kleinste
zu sein, jede Art von Gefühligkeit
wars, die du wie Zungenbrecher
jahrelang nicht übers Herz gebracht
hast, hier spricht endlich es dir, in
Symptomen und Launen, sich aus,
wie weit es ist von Glück zum Glück,
und dann fangen die Ereignisse an
vor Übermut wie Nasen zu bluten.
23. Juli 2016 20:21
Hendrik Rost
Das Halbfinale der EM sehe ich mir allein an, die Kinder schlafen ermattet nebenan, ihre Mutter liegt fiebernd ebenfalls im Bett, Kimmich steht ganz weit außen und ich spüre meinen Herzschlag im Hals, auch ein Kratzen im Rachen, Salbeitee. Den Tag über hat es nicht geregnet, um heute wieder zu schütten. Mir fehlt noch Teil VI der Sonette aus der Reihe „Fahrradcharismatiker“, mit denen ich die Eindrücke aus drei strammen Jahren des Fahrradpendelns in Hamburg verarbeite. Da, wieder eine sehenswerte Ballstafette. Ich bleibe zuhause und kümmere mich. Ein Tag im Home Office, merke ich, ist wie eine Woche im Büro: Kinder zur Schule begleiten, einkaufen, kochen, arbeiten, Kleinkind trösten, arbeiten, Kleinkind füttern, Kimmich auf Özil, Kinder von der Schule holen, Fragen beantworten (wenn findest du besser, Matthäus oder Messi?), essen, arbeiten, sich reinsteigern wegen Schweinsteiger, Dateien retten, die Kleinkind mit einem Patschen auf die Tastatur in den Orbit gejagt hat, Teil VI planen im Hinterkopf („dies sind keine Klagen, sondern das Glück, in der Ewigkeit nur eine kurze Strecke ableisten zu müssen“) … Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, stelle den Fernseher auf leise und bereite Frikadellen in der Küche für den nächsten Tag. Sie simmern herrlich im heißen Fett, plötzlich steht es still und leise 0:2 und mir fällt ein, dass Teil VI aus jeweils zwei Zeilen der ersten Teile bestehen wird plus zwei zusätzlichen Zeilen, dem schließenden Couplet. Kleinkind stolpert, Boateng patzt. Mit dem Ausscheiden der Mannschaft sind die Halsschmerzen verschwunden. Ach übrigens, wer nicht findet, dass es vermessen ist, immer nur auf Leistung und Größe zu schielen, der leiste sich was und werde groß. Kinder wachen auf, das Fieber sinkt. Und dann fängt die Arbeit wieder, endlich an.
8. Juli 2016 19:50
Hendrik Rost
Beim neuerlichen Lesen in der über Jahrzehnte gewachsenen Mappe mit Gedichten aus Tageszeitungen komme ich mir vor, als blätterte ich durch ein Familienalbum: Das da, das ist doch der über drei Ecken verbandelte Schwippschwager von dem dort. Dies ist der Onkel mit dem religiösen Eifer und jener dort hört erst mit dem Stottern auf, wenn er anfängt zu singen. Mutter, Tante, Schwestern haben jeden Tag mit ihren Rollen jongliert, bis uns die Gesichtszüge entgleist sind vor Bewunderung und ganz neue Wege gegangen sind …
14. Juni 2016 14:49
Hendrik Rost
Der Tag räuspert sich
fortwährend, hält
aber keine Rede.
Das Glas, das Glas
ist voller Luft,
ich nehme einen Schluck
aus der Zeitung,
in der ein Fisch
von Meldung zu Meldung
schwimmt. Es grenzt
an Zensur und
Zauberei, Teil
der Lösung zu sein
und Teil des Problems.
Das Wetter von morgen
ist der Katzenzustand
von heute. Für alles
ist der Tag zu haben,
der Tag merkt sich jeden
Hokuspokus.
27. Mai 2016 12:12
Hendrik Rost
Viele Kilometer entfernt lebt mein Vater.
Er ruht sich aus, nehme ich an.
Entfernt der alte Vater. Er ruht sich aus,
glaube ich. Wovon, das weiß ich nicht.
Sein Herz findet keinen Takt.
Es schlägt und flimmert irgendwie
und sendet kryptische Winke. Es morst
ohne Sinn. Es schlägt und pumpt
sich immer wieder eine Weile
von meinem Leben, wenn ich an ihn denken muss.
Ich will nicht nur wirres Zeug reden:
Auch diesen Moment nimm, nimm,
ohne irgendetwas zu tilgen. Mehr als genug Leben
habe ich bekommen
von dir.
10. Mai 2016 10:12
Hendrik Rost
Sprache, wir haben noch die Sprache, bevor
wir verrückt werden. Sprache, sie kennt keine
Rache, obwohl ständig irgendein Dings kaputtgeht.
Gut, dass wir alle Kraft an Sprache abgegeben haben.
Sie muss dreißigfach gefältet und
bei Zimmertemperatur um die Welt getragen werden.
Der gewaltige Installateur hat Rohre viel zu eng
um unseren Hals geschnürt.
Ständig fällt etwas aus einem Loch heraus
mit kleinem Knall. Die Sprache will nichts sühnen.
Maulwürfe verzweiheifeln, weil sie keine Macht
über die Sprache oberhalb der Erde haben. In Armeen
wie besessene Nager geistern Ansprüche
an Reinheit und Schutz durch alle Affären.
Alles gleicht einem Hochzeitsflug von Chimären.
Wir umarmen die Sprache mit der Zunge und schieben
immer kühnere Fügungen in die Fugen der großen, großen
chronischen Mauer. Viele, wer?, versuchen, die Sprache
aus der Sprache herauszulösen. Aber
so fintenreich der Wahnsinn sich auch tarnt,
er kommt als Versprechen daher, dass wir klüger
sprechen in Rätseln, wenn wir das Rätsel lösen.
19. April 2016 11:09
Hendrik Rost
Mit der Einjährigen auf dem Arm trete ich aus der Terrassentür und öffne die Schlagläden. Über den Rasen stolziert ein Vogel. „Sieh, die Dohle“, sage ich, aber sie schaut nach oben und verfolgt mit dem Blick zwei Krähen, die sich über den kahlen Baumkronen jagen. „Krah“, sagt sie und ich sage „Ja, zwei Krähen“. Ich muss ihr nichts zeigen, weil sie es schon sieht, kann es nur so benennen, wie wir, die schon länger reden, es kennen.
6. April 2016 10:37