Hendrik Rost

Lübecker Bucht

Sobald wir aus dem Windschatten der Hotels
auf den Strand treten, ist es zehn Grad kälter.
Die See, absolut spiegelglatt. Eine Postkarte.

Am Wasser liegen Seegras und Blasentang.
Ich scharre mit den Füßen darin herum.
Warum? Ich komme mir vor wie jemand,

der in fremden Schubladen wühlt. Ich finde
einen Bernstein und lasse ihn liegen –
ich suche nach etwas Neuem, das erst noch

versteinern oder verhärten muss. Schließlich
kommen wir an den Hafen. Letzte Boote liegen
im Wasser vor der Winterpause. Eine kindliche

Energie bewahrt sie vor dem Sinken: Naturgesetze.
Wir gehen zurück, Köpfe in Mützen wie Schätze.

30. Oktober 2012 15:11










Hendrik Rost

Nicolas Born arbeitet und lebt

Ein böser Husten, der alles verurteilt.
Trance bei der Tagesschau,
wie lange war ich weg?

Der Nachbar muss auf den Balkon
mit Zigarette. Der Rauch zieht zu uns,
markierter Atem.

Das Leben kennt nur Liebkosungen.
Gratulation zu dem Mut,
an der falschen Stelle zu lachen.

25. Oktober 2012 09:51










Hendrik Rost

St. Pauli


Seid froh, dass es Gott gibt,
sagt die Vierjährige,
weil der auf die verlorenen
Kinder aufpasst.

Im Frühjahr sehen wir einen Buchfink,
aus dem Nest gefallen.
Kindlicher Rebell, zerzaust,
mit Glubschaugen, die um Hilfe betteln.

Was wird daraus?, fragt die Kleine.
Wir gehen weiter.
Nach ein paar Schritten zupft sie an meiner Hand.
Ich weiß, sagt sie. Das wird ein großer Vogel.

6. September 2012 14:46










Hendrik Rost

Berechnung

Alles, was ich je wollte, war jemand,
der sagt, du kannst das. Du kannst
das Messer nehmen und seine kalte Schärfe.

Ich wollte die Streichhölzer einzeln anzünden,
die ganze Schachtel, eins, zwei, drei …
Du hast es mit Zahlen, auch das sollte jemand sagen.

Stattdessen war kaum zu unterscheiden,
ob ich mich schnitt oder ob ich blutete.
Was tat mehr weh, die Kruste abzuknibbeln

oder der Haut beim Vernarben zuzusehen?
Keiner sagte, du kannst viel aushalten.
Stattdessen: nicht so schlimm. Leben geht weiter.

30. August 2012 09:42










Hendrik Rost

Lautmalerei

Das ist ein Pingpongschläger,
das ist ein Tod.
Das ist ein Spielkamerad,
der sich in den Schädel schoss,
das ein Gesicht der Mutter,
in das ich nie mehr blickte,
ohne auf den Punkt zwischen
ihren Augen zu starren.
Das sind Falten dort und das
Geflecht, das sie bilden.
Das ist Intuition, die dort sitzt.
Das die Schnittstelle zum Kosmos.
Das ist es und nichts anderes.
Das ist ein Ping, das ein Pong.
Das ist kein Tod.

19. Juni 2012 07:57










Hendrik Rost

iDiot

Das Monster lebt ganz sicher nicht mehr. So nannten wir den Mann mit dem Kehlkopfkrebs, der auf unserer Station lag. Sein Hals war eine große offene Wunde, die auf ein Lätzchen nässte, das er um den Nacken trug. Wenn wir im Fernsehzimmer saßen und er heranschlürfte, um zu rauchen!, flohen wir aus dem Raum. Der Anblick war unerträglich: ein Sterbender, der sich die Kippe direkt an ein Loch im Kehlkopf hielt und keuchend inhalierte.
Wir lagen zu sechst im Zimmer. Auf unsere Station gab es nur Patienten mit Problemen vom Hals an aufwärts. Die Ärzte waren alle plastische Chirurgen, auf Rekonstruktion spezialisiert, die zugleich Zahnärzte waren. Keiner von uns war aus kosmetischen Gründen hier. Im Bett neben mir lag ein Mann mit zertrümmertem Kiefer. Er hatte beim Fußball ein Knie ins Gesicht bekommen. Seine Frau brachte ihm jeden Tag stumm und treu Suppe, eine köstliche, pürierte orientalische rote Linsensuppe, von der auch wir anderen kosten durften. Sie ging leicht durch den Stromhalm, mit dem wir unsere Nahrung aufschlürften. Vom Krankenhaus bekamen wir meist Pudding, ganze Karaffen voll. Nur die Schmerzmittel dämpften den Hunger etwas.
Bei sechs Leuten mit verdrahtetem Kiefer im Zimmer klingt es wie in einem Bienenstock, ein ständiges Nuscheln oder Gesumme. Das heißt, wir waren nur fünf. Der andere Patient hatte einen Tumor hinterm Ohr, und er war der einzige, der normal essen durfte. Wir möchten ihn nicht, und seine Mahlzeiten waren begleitet von unseren gierigen Blicken und der schlürfenden Stille, wenn der Pudding durch die Halme gezogen wurde. Er hatte die nervtötende Angewohnheit, den Halbliterbecher Kefir, den seine Frau ihm jeden Tag brachte und den er zu jeder Mahlzeit trank, ausgiebig zu schütteln. Das war sein Ritual.
Einmal öffnete sein Bettnachbar den Aludeckel nur ein kleines Stück und bog das Blech zurück, so dass der Becher ungeöffnet aussah. Der Esser nahm den Becher hob an zu schütteln und spritzte sich von oben bis unten voll mit Kefir. Wir lachten verdruckst durch die Drähte – und er war einfach nur perplex, wie hatte er nur vergessen können, den Deckel schon geöffnet zu haben.
Sein Bettnachbar, unser Krankenzimmerclown mit Turbanverband, hatte sich bei einer Motorradfahrt in Thailand den Schädel, alle Kiefer, das Jochbein, die Hand und noch etwas gebrochen. Er war bekifft nachts ohne Helm unterwegs, musste einem Lkw ausweichen und kollidierte mit einer Palme. Sein Kopf war auf die doppelte Größe angeschwollen und transportfähig war er keineswegs. Aber er kaufte sich ein entsprechendes Attest und flog mit den kaputten Knochen nach Hause, weil er, so sagte er, in Thailand so oder so gestorben wäre im Krankenhaus. Er wurde mit einem Schlauch durch die Nasenlöcher ernährt. Manchmal bat er mich, seine Pfeife zu halten, damit er trotz der verbundenen Hand Gras rauchen konnte. Bier goss er sich im Waschraum durch einen Trichter in die Nase. Ich weiß nicht, wie er noch leben könnte.
Einmal schlich ich mich abends aus der Klinik und machte einen Spaziergang im Park. Ich ging und hörte ein leises Klacken, das mich begleitete. Ich drehte mich um, niemand da. Kein Steinchen im Profil der Sohle. Nach einer Weile merkte ich, woher das Geräusch kam, und es lief mir kalt den Rücken herunter. Ganz leicht stießen bei jedem Schritt die losen Unterkieferstücke gegen den Oberkiefer. Es waren meine Zähne, die mir dumpf und haltlos im Munde klapperten. Ich war nichts als mein eigenes Gespenst, das um die Häuser zog.

8. Juni 2012 09:25










Hendrik Rost

A formal Feeling oder nenn es Wonne

Als der Arzt auch rechts einen Leistenbruch diagnostizierte und meinte, wir würden zuerst den linken operieren und dann nach drei Monaten den rechten, da bat ich darum, gleich beide in einem Abwasch gemacht zu bekommen, dann, so meinte ich, hätte ich es immerhin hinter mir. Er sagte, das könne er so gar nicht entscheiden, sondern nur der Chefarzt und der würde dann deswegen später zu mir kommen. Der Chefarzt kam dann auch, ließ mich husten und meinte, wir könnten es so machen, ich sei ja kräftig. Das machte mich stutzig. Aber gut …
Als ich aufwachte nach der OP, träumte ich von Betonblöcken, die mir jemand auf den Bauch gelegt hatte. Schwere Klötze, die mich zu ersticken drohten und die ich keinen Millimeter bewegen konnte. Ich wachte also auf und sah zwei schwere Sandsäcke, die tatsächlich auf meinem Bauch lagen und die Operationsnähte von außen beschwerten, damit ich nicht im Schlaf beim Husten die Narben sprengte. Ich sah also diese Säcke und im selben Moment setzten die Schmerzen ein. Es war eine Mischung aus Seekrankheit und bohrenden körperlichen Schmerzen, die so stark waren, dass ich versuchte, nichts zu tun, weder zu atmen noch nicht zu atmen oder mehr zu bewegen als eine Hand ganz langsam auf den Knopf neben dem Bett zu, mit dem ich die Schwester herbeiklingeln wollte. Dabei muss ich wieder eingeschlafen sein oder ich war ohnmächtig geworden. Als ich wieder erwachte, waren die Klötze verschwunden und der Druck geblieben. Ich dachte nur: klingeln, aber die Schwester kam ohnehin und brachte gleich eine Spritze mit, die sie mir oberhalb der Thrombosestrümpfe in den Oberschenkel gab, und sagte, „gleich wird’s besser“.
Besser? In einem Bruchteil von Sekunden kam eine warme Woge des Wohlgefallens von hinten auf mich zu, hob mich an und nahm mich mit auf einen Ozean der, zugegebenermaßen exogen erzeugten Freude. Schmerz war vergangen. Ich ließ mich sanft schaukeln und spürte in mir eine Zufriedenheit, die ich bis dahin noch nie erlebt hatte, die ich nicht einmal für möglich gehalten hatte, so fraglos und mild. Wie eine Mutter, eine große, milde Mutter, dachte ich.
So schaukelte ich eine Woche lang auf den Moment hin, wo ich das Ufer wieder erblickte in der Ferne, wo harte Realität lauerte und das Land von Pein besiedelt war. Also klingelte ich und bat um mehr und ich bekam mehr, denn ich war ja der, der beidseitig konventionell operiert worden war. Der, von dem man angenommen hatte, er sei stark genug, der, dem man diese Schmerzen also schon zugestanden hatte.
Das gute Gefühl. Das beste Gefühl, das ist es, wonach alle jagen. In der Werbung, in der Liebe, im Partner, im Erfolg, in der Kunst, im Schmerz, im Aufopfern, in der verdammten Aufmerksamkeit. Als ich es erlebt habe, wusste ich nicht, dass es das ist. Es gab keine Trennung in dies und das. Alles war – einfach nur. Ich konnte keine Zeile lesen zu der Zeit, sie verschwammen mir vor Augen. Ich lag im Bett und sah MTV, bunte, schnell geschnittene Bilder, die meine Aufmerksamkeit nicht belästigten. Ein Freund besuchte mich einige Male im Krankenhaus, wir unterhielten uns. Als ich entlassen wurde, hatte ich vergessen, dass er da gewesen war. Oder nicht vergessen, es spielte keine Rolle mehr. Das war ohnehin die hl. Droge.
Ach, der Leistenbruch, der war angeboren oder erworben. In jedem Fall eine Schwäche, und dann kommt dieser Druck von innen nach außen. Und das Gefühl platzt.

23. Mai 2012 16:08










Hendrik Rost

Nach einem längst überfälligen Gespräch über Gedichte …

PS: In Lübeck herrschte ein unglaubliches Unwetter, eine schwarze
Wolkenlinse über der Stadt, womöglich dieselbe, in die Hollande zuvor auf seinem Flug
nach Berlin geraten ist. Der Blitz, der sein Flugzeug getroffen hat, das
war wahrscheinlich eine wortwörtliche E-Mail aus dem Olymp, von wegen
Wachstum durch Schulden …

16. Mai 2012 09:38










Hendrik Rost

Das letzte Gold

Gedichte klemmte ich mir ans Fahrrad. Ein kleines Büchlein mit Texten von Trakl war mein liebstes. Ich lernte An den Knaben Elis auswendig, Grodek und andere. Auf dem Weg zur Schule kam ich über Land, 13 Kilometer durch Maiswüsten. Wie schwermütig ich war, das las ich in den Texten. Die Bewegung regte mich an, das Auswendiglernen war Abbild der Bewegung im Geiste. Insgesamt war das alles lächerlich: der Mais, die Gedichte, das Fahrrad, die Schwermut. Und es war grandios. Ich fuhr Komplexen für den Moment davon und träumte dabei nie von künftiger Größe. Ich träumte ohnehin nicht viel, sondern las, von den Fingern der Mönche, von traurigen Tieren und von dunkler Deutung. In der Schule zehrte ich von meinem Image als Sonderling, etwas Schauspieler, etwas Sportler, etwas ehemaliger Rebell. Und etwas Leser. So ging es weiter. Wer weiß, wozu das noch gut sein wird?

25. April 2012 16:01










Hendrik Rost

„Sinn“ ist das Geräusch eines sehr schnellen Objekts

Der Tag beginnt mit Sonnenuntergang
Die Ameisen führen Krieg untereinander
Schöne Schilderungen der Natur werden ausstoßen
von Leuten, die es besser wissen müssten

Müde liegen Gewerbeparks um die Stadt
Ich liebe jetzt den Lärm der Nachbarn
Sie leben noch und fürchten Ameisen
Die Bücher liegen uns schwer im Magen

Die Kinder wollen getröstet werden
Irgendwann ist wieder Disko
Wir müssen nicht weitermachen
Wir müssen in uns gehen wie Mikroben

27. März 2012 08:43