Mathias Jeschke

Corvus corone

Die Rabenkrähe federt über die Wiese, sie
ist ein zweidimensionaler Scherenschnitt in
einer dreidimensional erscheinenden Welt.
Was hebt dich über bitter erlittenes Unrecht
hinweg, wenn nicht der Anblick der Natur.

Deine Jüngste hält sie für klein und wünscht
sich, eine von ihnen auf die Hand zu nehmen.
Sie, die eine besondere Begabung hat dafür,
diese Welt und ihre Erscheinungen in ein
austariertes Beziehungsnetz einzuflechten.

Sie schnarcht jetzt neben dir und in deinen
Träumen verwandeln sich die über das Gras
hüpfenden Krähen in lebensfeindliche Ideen.
Wie auch sollte es sich lohnen zu leben in
einem Käfig aus Gepränge und Geschmeide?

Wie viel Schmerz jedoch erträgst du und wie
willst du das Erlittene verkraften, wenn du
nicht den Augenblick nutzt, es loszuwerfen,
einen Anker, eine Urne in die wallende See,
einen gellenden Ruf nach Rettung, ein Gebet.

25. August 2014 21:05










Mathias Jeschke

Freibad 7

Der Tag, an dem die drei afrikanischen Musen,
grazile Nachfahrinnen der Erato – nigra sum,
sed formosa – in der gleißenden, auf dem Wasser
blitzenden Nachmittagssonne den Tempelbezirk
des Freibads durchschritten, war ein Sonntag.
Es war unfassbar heiß. Sie durchschnitten einen
sorgsam gewobenen, bunt gewirkten Teppich.
Sie teilten ein Meer. Irgendjemand in deiner Nähe
atmete hörbar aus. Wir kniffen die Augen zusammen
und griffen blind nach gekühlten Getränken.

2. August 2014 21:48










Mathias Jeschke

Zygaena lonicerae

Das Kleewidderchen fliegt von Thymian zu
Oregano, der Truppenübungsplatz liegt still
und atmet unter der Sonne. Du denkst an
deinen Mitschüler, dessen Vater explodiert
war. Wer wählt schon einen solchen Beruf?

Die Kampfmittelbeseitigung, kann denn das
Berufung sein? Du denkst an die ebenfalls
explodierenden Kaninchen im Gedicht von
Jürgen Becker und fragst dich, warum euch
eigentlich nichts passiert war damals, als ihr,

Kinder, die ihr wart, Munition gesammelt,
euch in den Gürtel gesteckt habt, ihr wart
verkleidet als Soldaten mit den abgelegten
Uniformteilen eurer soldatischen Väter,
die sich euer Spiel aus der Distanz besahen,

die aber nicht eingriffen, es betraf sie selbst,
sie waren betroffen, wussten ja selbst nicht,
wer sie waren, wenn sie die Uniformen nicht
trugen, die Uniformen waren es, die ihnen
Sicherheit gaben. Dank sei den Uniformen.

28. Juli 2014 22:14










Mathias Jeschke

Phoenicurus ochruros

Der fidele Hausrotschwanz umgibt dich mit
Geknickse und Gewippe. Sein Gesicht unter
der schwarzen Haube meinst du schon lange
zu kennen. Es wirkt vertraut wie ein alter
Brief, den du im Leben nicht mehr vergisst.

Was sagen die Zeilen, die Zeichen, das Zittern?
Es riecht nach blühenden Linden, das Laken
der Nacht, es flattert wie eine knatternde
Flagge, ein Hoheitszeichen. Doch wo ist
das Land, wo der Boden, auf dem du stehst?

Welcher Verheißung fällst du anheim und wo
sind die Erlöse der Unruh? Du wanderst
im Garten umher und wirst von dem Vogel
umlagert, als wüsste er, dass es nicht gut wär,
dich in diesem Zustand alleine zu lassen.

Lange dachtest du nicht mehr an jenen Brief
Nun kniest du vor der knarrenden Truhe und
wühlst dich durch die vergessenen Schichten.
Da fällt dir ein Auge ins Auge und eine Brust
in die Hand, du fühlst einst verheißenes Land.

23. Juli 2014 19:38










Mathias Jeschke

Erythromma lindenii

Die Pokaljungfer begibt sich zur Paarung
an eines der Schilfrohre, die senkrecht aus
dem Karpfenteich ragen. Du identifizierst
dich mühelos mit dem Azur des Männchens
und findest auch den Ort sehr gut gewählt.

Die Karpfen betätigen sich währenddessen
als Unruhestifter am Grund des Teichs, vier
sind es an der Zahl und kapitale Exemplare.
Die dreihundert Kinder, denen du gestern
deine Geschichten erzählt hast, vor Augen,

denkst du an die dreihundert Menschen, die
über der Ukraine abgeschossen wurden von
einer Rakete russischer Bauart. Von der
Theodizee ganz zu schweigen, was bleibt
nach Tränen, Trauer, Ohnmacht und Tod?

Was für ein Gott, der sich Paarung und Tod
zugleich ausgedacht haben soll! Solch ein
Sommertag stimmt dich versöhnlich, jedoch
wie kommst du klar mit diesem und dem
nächsten Abschuss, Krebstod, Herzinfarkt?

21. Juli 2014 21:18










Mathias Jeschke

Emberiza citrinella

Die Goldammer kommt übers weizenblonde
Feld, das glänzt wie das hochsommerliche
Haar einer lang Verflossenen, die plötzlich
daliegt, als sei die Zeit ein Nichts und dieser
Weg zur Arbeit ein Steg aus warmem Holz.

Sie installiert sich selbst in einem Busch als
Leuchte der Beteuerung: Wie, wie, wie hab
ich dich lieb! Und richtet ihren Strahl auf dein
Gedächtnis. Es kracht in den Synapsen und
Erloschenes kommt unverhofft zum Vorschein.

Du ziehst dir die Sandalen aus und sprichst:
Hier bin ich. Es umfängt dich dieser Sommer
mit feuchter Erde, mit Honig verheißendem
Klee und einer Idee vom zügellosen Leben,
das nackt in die sirrenden Nächte hinausläuft.

Fang dich, die Goldammerlampe erhellt dein
Gesehne, Verlangen, sie scheint dir zur Zier.
Nicht wie ein brennender Dornbusch, doch
wie in der Kapelle das ewige Licht den Raum
erfüllt als Herz und Kern und Gnadensame.

16. Juli 2014 20:28










Mathias Jeschke

Volucella zonaria

Was macht die Hornissenschwebfliege auf
dem weißblütigen Schmetterlingsflieder so
anziehend, als sei sie eine der einnehmend
langmähnigen Spielerfrauen, gewinnendes
Lächeln, schwarz-rot-goldener Stringbikini.

Du gehst vor der wippenden Blütendolde in
die Knie, von der sie den süßen Nektar saugt,
starrst auf das Insekt, als handele es sich um
eine edle Peepshow, wie das Tiki-taka der
Spieler bei dieser Copa do mundo no Brasil.

Jenes Samba-Strandereignis, von dem du dir
ein schickes Häppchen erhoffst, denn springt
nicht immer noch was raus, ja, kommt nicht
immer noch was rum, wenn es mal irgendwo
Gewinner gibt auf dieser überregulierten Welt.

Sogar für den, der sonst nichts zu lachen hat,
der sein letztes Hemd bereits gegeben hat,
um diese zarte Berührung zu spüren, dieses
sanfte Saugen und Ziehen auf seiner schönen,
nackten, immerhin davongekommenen Haut.

14. Juli 2014 15:06










Mathias Jeschke

Freibad

Stille lockt im glucksenden Leuchten.
Über dem Becken ragt der Turm.
Ich springe und lass mich verschlucken.

Seht, in der Sonne der brennende Dorn!
Hinunter, um mich in Blau zu kleiden.
Stille lockt im glucksenden Leuchten.

Zu Spott nicht zu werden, zu knicksen,
nicht schwer mich verstiegen zu haben:
Ich springe und lass mich verschlucken.

Was mich erwartet im Feuchten?
Kann ich mich hinter mir lassen?
Stille lockt im glucksenden Leuchten.

Furcht in den Sprung hineingenommen,
mit dem Scheitern gemeinsam gestürzt.
Ich springe und lass mich verschlucken.

Ein Taucher, beherzt. Zu den Korallen!
Hinunter, um lustig hinaufzugischten.
Stille lockt im glucksenden Leuchten.
Ich springe und lass mich verschlucken.

10. Juni 2014 21:41










Mathias Jeschke

Tankstelle

Halle aus Licht am Rand des Geländes,
mein fahriger Blick streift Ungefähres.
Ich führe den Stutzen behutsam ein.

In der Rechten flexibel den Schlauch,
in der Linken den dinglichen Stutzen.
Halle aus Licht am Rand des Geländes.

Der scharfe Geruch ein sinkender See,
an der Säule salutieren die Zahlen.
Ich führe den Stutzen behutsam ein.

Es klirren die Sporen an meinen Stiefeln,
im Radio die Beichte einer Gitarre.
Halle aus Licht am Rand des Geländes.

Was hinter mir liegt, schafft eine Leere,
die will ich befüllen mit all meiner Kraft.
Ich führe den Stutzen behutsam ein.

Es liegt ein duftendes Sehnen im Abend,
dies sei der Moment, in dem es geschieht.
Halle aus Licht am Rand des Geländes.
Ich führe den Stutzen behutsam ein. 

9. Juni 2014 23:08










Mathias Jeschke

Liederhalle Stuttgart

Die Matthäuspassion ist ein Raumschiff,
das über der Erde schwebt.
Zerrüttung und dann Glück heißen die Tage,
an denen es dir spürbar nahe kommt,
Einfriedung die, an denen du einsteigen kannst
in diese Tränengondel aus einer anderen Welt.

Das Kreuz – omg! – ist das heilige Steuerrad
und Masaaki Suzuki lenkt das immense Schiff,
verlässlich und ruhig, ein Commander,
Tai Chi-geschult, tänzerisch wie ein Jedi beinahe,
in einer Spannung aus Gelassenheit und Präzision
durch dein grämlich ungeordnetes,
dein ach so elend ungeerdetes Leben.

Die Stimmen der Solisten – der Evangelist, kraftvoll
und erhebend spielerisch, wenn du
jemanden je gerne erzählen hörtest, dann ihn.
Jesus ein cooler Käpt’n Nemo, das Evangelium
ist seine Nautilus, unterwegs in unsrer Unterwasserwelt.

Die Sopranistin, in die Passion fühlt sie sich ein,
stellvertretend für uns alle.
Blicke ihr ins Angesicht und siehe die Schmerzen
auf ihrer Stirn, in ihrer Brust ein Schwert,
ihre Rechte formt die Worte der Schrift.
Wärst Du ein Setzer, du bräuchtest ihr nur zu folgen.

Dies die Tage der Empfindsamkeit und des Mitgefühls.
Meister Suzuki hebt auf die Gravitation.
Er bringt unser ewiges Leiden in Schwingung.
Wir gehen nach Hause, erfüllt
von der schlichten, Leben schaffenden Erkenntnis
Johann Sebastian Bachs, Musik in unsren Ohren:
Nicht an sein Vergeben reicht dein Vergehen.

3. Juni 2014 18:45










Pages:  1 2 3