Gerald Koll
Das fünfzigste Jahr (101)
23. November 2016, ein Montag
Morgens sehr kalt, der Winter ist da. Trotzdem auf das Fahrrad, um zum Prenzlauer Berg zu radeln und das Zipperlein-Knie in Bewegung zu bringen. Dort, in der Bäckerei, wo ich wieder mal gern lesen würde, sitzt R. Kein Entrinnen. Es ist schwer, gute öffentliche Plätze zum Lesen zu finden.
Dank Kytta-Salbe ins Aikido gegangen. Verhohlener Ärger gegen J., die dauernd in ihre Partner hineinlief. Also ein Test in Demut, Toleranz und mildem Gutsein, und so lächle ich und bitte im Anschluss um ihren Rat … und wieder wird das Tagebuch zum Gulli, zum Abfluss des Ungesagten, dessen, was vor der Welt nicht zur Sprache kommt. Daher wohl auch das unproportionale Ausmaß des Selbstmitleids. Mein Tagebuch ist kein Spiegel, keine Chronik, es ist die Tonne meiner Abwässer.
Und wieder am Riesenrad vorbeigefahren, durchzuckt von der Erinnerung an Kitty, die dort in der Gondel auf Sex drang – trotz/wegen der Zuschauer der Nachbar-Gondel. Das Tagebuch-Schreiben hämmert die Erinnerung fest – auf diese Weise wird sie erst recht fixiert und zur fixen Idee. Das Tagebuch wirkt präskriptiv, das Erinnern stellt Weichen für die Zukunft.
Allein ins Kino, in Ewige Jugend von dem italienischen La Grande Bellezza-Regisseur Paolo Sorrentino, der seine Zuschauer mit einem wirklich gemeinen Köder lockt, nämlich mit einer Miss Universe, die nackt zu alten Männern in den Pool steigt. Oft wirkt diese Zauberberg-Variante mit seinen vielen Stillleben und Ruhebildern recht kunstliebhaberisch, aber immer noch fällt genug ab, um eindringliches, intellektuelles und sinnliches Arthouse zu sein.
Seltsamer Schriftverkehr mit einer Regensburger Choreografin, die mein Japan-Buch zu einem Tanzstück transformiert hat. Ich hege gelindes Desinteresse, wahrscheinlich snobistisch geworden durch die Arbeiten von Meg. Gleichzeitig aber reagiere ich empfindlich darauf, dass im Programm mein Name zu „Kroll“ verschrieben wurde. Ja, was denn nun?
23. November 2016 10:09