Gerald Koll
Das fünfzigste Jahr (126)
10. Januar 2016, ein Sonntag
Eben aus Nachmittagsschlaf erwacht. Letzte Traumbestandteile: durch Gänge rennend, die an Umkleidekabinen in Turnhallen erinnern, nach draußen, wo Frau S. soeben in einem Bus verschwindet; erleichtert, sie noch zu erwischen. Obwohl ich sicher bin, dass sie mich bemerkt, bleibt sie drinnen, zischend schließen die Türen, und ich bemerke, dass der Bus komplett fensterlos ist. Demonstrativ verzweifelt legte ich mich ausgestreckt auf die Straße, gehe zurück zum Eingang der Halle, um mich zu duschen und anzuziehen (war ich denn ausgezogen??), aber die Eingangstür ist verschlossen. Schließlich öffnet sie sich, da Sportler (auch ein Leiter, der mich verwundert anblickt) herauskommen; ich schlüpfe hinein. Da kommt mir ein dicker, unsportlich wirkender Mann entgegen, der offenbar irgendein Hausrecht besitzt, mich freundlich aber distanziert anspricht (im Sinne, was ich denn dort wolle), worauf ich ausweiche und er auf den schönen Klang der Boxen zu sprechen kommt, aus denen klassische Musik erklingt.
Aufgewacht im beklommenen Traum-Nachgefühl, dass meine allgemeine Verlustangst nun auf Frau S. zuschlängelt. Die Diskrepanz zu meinen ersten Frau-S-Eindrücken könnte kaum größer sein. Was spielt sich biologisch im Hirn ab, wenn sich die Wahrnehmung ein Wesen zum Liebesobjekt verwandelt und metamorphosiert?
Und welche Rolle spielt dabei mein Familienbildungswunsch? Geradezu bestürme ich Frau S., doch bitte gern am Abendessen teilzunehmen, wenn am kommenden Wochenende meine Eltern nach Berlin kommen. Ich erteile ihr eine Lektion in Canasta, weil die Eltern doch so gern Karten spielen würden. Familiespielen – was ist denn da los?
Zugleich sehe ich das Liebevollwesen Frau S., das mit Blumen vor der Tür steht, überdies einen sehr schönen Busen vorweist und sexuell stets parat ist. Dabei bin ich derart konditioniert auf den Reiz der Widerstands-Überwindung, dass ich weiche, wenn man mir zufliegt – charakterlich widerwärtig.
Gestern haben wir beide Truffauts L’Amour en Fuite gesehen, der Abschluss der Doinel-Reihe – zumal ein ernüchternder Abschluss, nachdem schon Domicile Conjugal ein Stück Arbeit war. Nun noch ärger: nichts ist wirklich glaubhaft (Léaud ist schier desinteressiert an Doinel). Truffaut hatte völlig Recht, diesen Film nicht zu mögen. Er wirkt geradezu als Verrat am einstigen so genialen Projekt. Ich habe den Film wohl Ewigkeiten nicht gesehen, und ich schätze, es wird das letzte Mal gewesen sein.
10. Januar 2017 14:15