Gerald Koll
Das fünfzigste Jahr (13/14)
23. Juni 2015, ein Dienstag
Ist nun Tagebuchschreiben ein Projekt? Nur bilden publizierte Tagebücher wehleidiger Erwerbsuntätiger, die sich mangels anderer Interessenten sehr für sich selbst interessieren, keine Marktnische. Anders natürlich Tagebücher von todgeweihten Größen wie Schlingensief oder Herrndorf: Schreibvermögen Voraussetzung, ein Tumor als Zusatzqualifikation günstig.
Halbherziges Stöbern in Stellenanzeigen. Den Nachmittag verbraten mit einer Bewerbung bei einem Architekturbüro. Die Bewerbung hat nur allergeringste Aussichten und bietet im günstigsten Fall eine Aussicht, die ich nicht mag. Das ist nicht eben das, was die Weisen raten, wenn sie sagen, nur genau das zu tun, was man täte, wenn man wüsste, dass man morgen stürbe.
24. Juni, ein Mittwoch
Um 16 Uhr bei Heilpraktikerin H., Seelenheilerin. Adrette Wohnung, sauber, frisch. Frau H. geht davon aus, dass ich (wie jeder andere auch) Erbe der Konflikte meiner Vorfahren bin und diese auszutragen bzw. zu lösen habe. Frage: Wenn meine Konflikte gleichsam transgenetisch über die Vorfahren zu mir kommen, gäbe es ja – da die Methode doch recht jung sei – unzählige Konflikte aus 20 und mehr Generationen, die sich in mir auftürmen. Frau H.: Nein, es geht selten über die fünfte Generation hinaus. (So haltbar sind sie denn doch nicht.)
Anlass zu Optimismus: Es würde sich in schweren Krisenzeiten ja alles zum Besseren entwickeln. Da sei ich, widerspreche ich, im Zweifel, wenn ich die Motz-Verkäufer in der U-Bahn betrachte. Sagt Frau H: Das würde sie bei mir anders sehen. (Nette Parteinahme, aber die Motz-Verkäufer gehören auch nicht zur H.-Klientel, dafür ist die Sitzung zu teuer.)
Zwischenfall: Eine Spinne seilt sich an der Liege ab. Ich krieche über den Boden, um sie zu erwischen, aber sie ist zu schnell. Irgendwann habe ich sie, aber sie ist sofort derart eingekrümmt, dass ich nicht weiß, ob sie noch lebt. Vorsichtig werfe ich sie aus dem Fenster.
Stichworte unseres Gesprächs: Ausgeschlossensein, Unerwünschtsein, Ziellosigkeit, Überwältigungs-Stau – das letzte Wort lässt Frau H. aufmerken … Anlässlich des Stichworts Überwältigungs-Stau wird der Ursprung dieses Staus ausgemacht, und zwar durch einkreisende, mechanisch und zügig gestellte Fragen durch Frau H. Ich beantworte sie nicht bewusst, sondern liege lediglich auf der Liege und lasse meine Hände in den Händen von Frau H. Sie hebt diese Hände immerzu hoch, lässt sie gleichsam pendeln und stellt dabei Fragen. Je nachdem, ob meine Zeigefinger am höchsten Punkt nun einander berühren oder nicht berühren, ergibt das eine Antwort. Die Antworten entziehen sich meinem Wissen und Bewusstsein. Die Antworten, so die Theorie, entströmen den Speichern meines Unterbewusstseins.
Eingekreist und ausgemacht in diesem Fragespiel wird meine verstorbene Großmutter E. Sie verstarb Ende der 50er bei einem Auto-Unfall. Großmutter E. also sei zuständig meine geografische Orientierungslosigkeit, denn E. schlingere im Totenreich herum und könne sich seit 60 Jahren nicht dareinfinden, so vom Tode überwältigt worden zu sein. Die Lösung erfolgt, indem ich mich – gedanklich in einen imaginären „heiligen Raum“ begebe, mich mit der mir sonst unbekannten Großmutter E. „verbinde“ und einige Tropfen einspeichle, die Frau H. mit einer Pipette verabreicht. Zum Abschluss geleiten drei Engel – Barachiel, Raphael und E.s persönlicher Schutzengel (wieso jetzt so was apokryphes, wir waren doch immer evangelisch?) Großmutter E. ins Totenreich. Lautlos wiederhole ich soufflierte Sätze von Frau H.: dass E. jetzt gehen dürfe, dass zwar die anderen überlebt hätten und E. allein gehen müsse, dass jetzt aber ihr Mann auf sie warte dummdideldumm. (Nun ja, von den Überlebenden leben nur noch Wenige.)
Wie ich mich fühle, fragt Frau H. Ich empfinde, sage ich, eine gewisse Schräg- bzw. Krummlage, die Frau Hoppe als Bestätigung interpretiert: Dies sei die Korrektur der bisherigen Schräglage, die ich eben bislang irrig als austarierte Lage wahrgenommen hätte. Ganz schön gerissen, meine Frau H.
Rückweg. Besuch beim Baum im Park am Friedrichshain. Ich mach auch wirklich jede Scheiße mit. Dann sehr müde und zu Bett.
19. Juli 2016 14:48