Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (165)

20. März 2016, ein Sonntag

Heute ist Frühlingsanfang. Soeben ermuntert mich Frau S., das vernachlässigte Tagebuch aufzunehmen. Ich erwähnte, dass es derzeit leidet. Wenn sie wüsste! Denn was zu Buche schlüge, ist nicht leicht zu beschreiben: auflodernder Widerwille gegen körperliche Nähe. Es ist beschämend. Aber immer wieder überkommt er mich. Er überkommt mich, wenn Frau S. selbstvergessen meine Finger streichelt, sehr sacht und leicht, aber dieses Sachte und Selbstvergessene enerviert mich, und ich ersinne Schlichen, diesen Streichelattacken zu entkommen. Ich nehme ihre Finger in die Hand, drücke sie, verankere sie, lege sie in Ketten. Dazu das Gefühl sexueller Nötigung. Gestern Abend – ich sah es kommen, denn zwei Tage waren ohne Sex verstrichen – war es also wieder so weit, und ich spürte Forcierung und Forderung, der ich nachgab ohne rechte Lust, oh weh – wohin soll das führen? Zermürbte Nacht, versalzener Morgen, ausgeschlafener wird man nicht davon.

Nebenan wohnt ein lieber Nachbar mit Familie – und seit neuestem mit Katze, die sich immer mal wieder im Haus herumtreibt. So auch gestern Abend, als Frau S. und ich nach vollem Tag die Treppen stiegen. Am Absatz meiner Wohnung trafen wir also auf den lieben Nachbarn mit Tochter auf Katzensuche. Die Tochter war erst etwas schüchtern, denn man kennt einander doch nur flüchtig, doch der liebe Nachbar war ungewöhnlich aufgeräumt, ermunterte die Tochter, einen Guten Abend zu wünschen, uns, die wir spürbar in die Wohnung drängten, gleichsam auf der Flucht, denn auf dem Vollbart des lieben Nachbarn lag senkrecht ein Schleimfaden, dick wie ein Tau und böse-gelb. Fast waren wir, höflich ignorierend, glücklich entschlüpft in die Wohnung, als die Tochter lauthals aufschrie, was ihm, Papa, denn da aus dem Mund fließe. Sie schrie so laut, dass ans Türenschließen nicht zu denken war, sondern wir gezwungen waren, stumm und betreten Zeuge zu sein, wie der liebe Nachbar zunächst ungläubig nachfragte, sich in den Bart griff, den sämigen Schleim abzog, in seine Hand starrte und ausrief: „Das ist ja schrecklich!“ Er wünschte uns darauf sehr traurig einen schönen Abend, worauf wir, die nun als Mitwisser enttarnt waren, leise die Tür schlossen und dahinter zu Boden sanken in tonlosem Lachkrampf. Hätten wir nur früher Signale gesendet und mit dem lieben Nachbarn gemeinsam in heiteres Lachen ausbrechen können! Vielleicht wäre alles gut geworden. Nun ist da ein tosender Makel, eine Blamage, ein schreckliches Etwas getreten.

20. März 2017 13:31