Gerald Koll
Das fünfzigste Jahr (177)
8. April 2016, ein Freitag
Letzte Nacht rumpelte es unter uns, als würden wir über einer U-Bahn-Trasse wohnen, aber hier verläuft keine U-Bahn. Es wirkte auch weniger technisch, eher organisch, als hätten wir im Keller einen Drachen, der sich im Traum wälzt. Wir erfuhren, die Erde habe gebebt.
Jetzt ist es schon wieder Nacht. Mit dem letzten Zug haben wir es gerade noch geschafft, gehetzt von Bahn zu Bahn, von Kawasaki nach Matsudo. Die Waggons waren überfüllt mit Angestellten, die nach dem obligaten Freitagfeierabendbesäufnis nach Hause wankten. Ein Gesellschaftsproblem, beklagt auf Plakaten.
In der Tokyo-Station beobachteten wir einen Herrn, den man sich dem Äußeren nach als seriösen Herrn in leitender Position denken würde. Sein Zustand war desolat. Soeben torkelte er die Treppe hinab, als seine Hose zu den Knien rutschte. So stolperte er weiter. Ein Zweiter fiel und purzelte. Einen Dritten schleiften Beamten aus dem Zug und legten ihn auf dem Plafond ab. Wir haben Tränen gelacht.
5 Uhr Wecken, Training von 8-9 Uhr bei Irie-Shihan mit zwei geschmeidigen Japanerinnen, Training von 15-16 Uhr bei Seki-Shihan mit einem robusten Rumänen, Training 20-21:30 Uhr bei D.s Schwert-Meister Sugino-Sensei. Ich wurde immer konfuser. Aikidoka luden dann zum Essen. Das war unbequem, denn nach den drei Trainings bekam ich Wadenkrämpfe und viel Durst, aber wir saßen im Schneidersitz bei Bier und Sake. Man bestellte eingelegte und vergorene Sojabohnen, außerdem Schweinekopf am Schaschlickspieß.
Jiro Taniguchis Manga namens Nakano Broadway trieb mich zum Nakano Broadway, einem Einkaufpalast auf vielen Etagen. Unter grellem Bunt und Wild befand sich auch ein reizendes Café im schlicht-klassischen Stil der 60er Jahre, als sei es ein Filmset von Ozu. Auch eine riesige Buchhandlung war da, in der ich ein Manga von Taniguchi kaufte.
Der Wäschetrockner piept. Es ist 2 Uhr durch. Der Wecker ist auf 5 gestellt.
8. April 2017 18:02