Gerald Koll
Das fünfzigste Jahr (190)
21. April 2016, ein Donnerstag
16 Uhr. Wir sind nicht nach Kumamoto gefahren, nachdem wir neue Zahlen erfahren haben: 52 Tote, 700 Verletzte. Kumamoto ist 250 Kilometer von Fukuoka entfernt. Außerdem regnet es den ganzen Tag. Schon fünf Uhr morgens, als wir aufstanden, um zum Morgen-Aikido zu gehen. Es ist jetzt Nachmittag, und es regnet noch immer.
Unter den vielen betagten und versierten Aikidoka befand sich auch ein 70er, der im Gespräch andauernd in Gelächter ausbrach und eine kurze Pause zwischen seinen Lachsalven dafür nutzte, D. und mich für die Mittagszeit in ein Luxus-Ryokan mit Onsen einzuladen. Sehr schnieke, sehr fein dort alles, auch die platschenden Quellen, auch der japanische Garten, aber nichts von all der feinsinnigen Badekultur hat mich nachhaltiger beeindruckt als jene Viertelstunde in den Räumlichkeiten des Umkleidens. Dort befiel den launigen Mann, der neben seiner Nebentätigkeit als Zahnarzt leidenschaftlich gern Taiko und Flöte spielt, plötzlich größte Lust, uns einige Techniken und Energieflüsse zu zeigen. Nun kamen wir gerade aus dem Bad und waren nackt, und so tummelten wir drei Herren uns in kontaktfreudigem Miteinander herum, und ich war froh, dass zu dieser Uhrzeit keine anderen Gäste dort waren. Eine Frohnatur. Die Erdbeben, sagt er, seien natürlich unbehaglich, aber das sei eben die Kehrseite der herrlichen heißen Quellen in Japan, und diese wolle er auf keinen Fall missen.
24 Uhr. Nach dem Abend-Aikido führte uns ein französischer Aikidoka in ein Restaurant für Okonomiyaki, eine Art japanische Pancakes mit Käse, Zeugs, kräftiger Sauce und einigem Gewicht. Der Franzose lebt seit einem Jahr in Fukuoka und erzählte freimütig, wie schwer es für ihn als Ausländer in Japan sei: die Schwierigkeit, hinter Lächeln und gelächelte Lügen zu blicken, die Schwierigkeit, nicht nur als Gast, sondern als Einwohner willkommen zu sein, die Schwierigkeiten mit Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Er bewirbt sich bei Suganuma-Sensei um den Posten des Uchi-Deshi. Er trainiert im Durchschnitt 16 mal die Woche. Er sagt, dass man auf diesem Level ein völlig anderes Verhältnis zum Partner hat, weil man die Energie ganz anders spürt. Er hat auch die Erdbeben gespürt. Sie kamen, wie Erdbeben so sind, in Wellen. Das erste Vorbeben sei gekommen, als der Franzose im selben Restaurant saß, in dem er soeben mit uns aß. Es sei seltsam gewesen: Plötzlich klingelten überall Telefone – alle Gäste hatten die automatische Erdbebenwarnung aktiviert, und allerseits sei man gebannt und bass erstaunt gewesen, bis es wenige Augenblicke später im Gebälk gerumpelt habe.
Morgen nach Kyoto, zur Teezeremonie!
21. April 2017 23:08