Gerald Koll
Das fünfzigste Jahr (196)
27. April 2016, ein Dienstag
Schlechter als alle schlechten Plätze im Flugzeug sind die Sitze 31 E und 31 F. Diese Sitze lehnen steil gegen die Toilettenwand. Auf diesen Plätzen verbrachten D. und ich die zehn Flugstunden von Tokio nach Helsinki. Jede Minute hört man es hinter sich zischen. Jede Minute stiebt aus dem Türspalt Gestank, der klebt. Der eigene Sitz geht nicht zurück, der Sitz des Vorderpassagiers aber schon. Die Fluggesellschaft Finnair foltert seine Passagiere mit miserablen Speisen und tückischen Ohrsteckern: Der Pegel für Filme ist sehr niedrig eingestellt, der Pegel für Durchsagen sehr hoch, und wenn man sich nicht, sobald man während eines Films ein verdächtiges Rauschen hört, sofort die Stecker aus den Ohren reißt, zerreißt der dreiste Pilot mit seiner Durchsage das Trommelfell. Wie üblich, windet sich in nächster Nähe ein Kind im Dauerschreikrampf.
Ich würde gern darüber nachdenken, wie ein Aikido-Film aussehen müsste, der anders aussieht als die vielen Impressionen, Clips und Werbefilme, die die bezwingende Eleganz zelebrieren oder martialisch aufpeppen. Ich denke, er müsste aussehen wie eine Kalligrafie. Das Schöne an der Kalligrafie ist weniger die einmalige Schönheit als die Schönheit, die sich in fortwährender Wiederholung freisetzt, das Abschleifen, die Verflüssigung, das Ausarbeiten eines Schriftzugs. Aikido ist ähnlich: ein Bewegungsablauf, immer wieder, immer wieder neu, je nach Partner, nach Stimmung, nach Energiezufuhr, nach Alter, Wetter, Planetenkonstellation. Ein Film aus Wiederholungen. Ich denke, dass ich darüber nachdenken sollte, wenn es um mich herum nicht mehr dauernd zischt, stinkt, schreit und die Piloten endlich schweigen.
27. April 2017 09:18