Gerald Koll
Das fünfzigste Jahr (75/76/77)
19. September 2015, ein Sonnabend
Still Alice hinterließ in mir eine satte Angst vor Krankheiten, die mich rettungslos verblöden lassen. Reizvoll aber doch: als biologische Konsequenz sozialer Schwundstufe.
Die Nachricht der Baugenossenschaft, ich möge bitte nächsten Freitag den Untermietvertrag mitbringen, lässt aufhorchen. Wenn sie wieder Steine in den Weg legen und der Umzug verschoben werden muss, ist die Hölle los. Mal sehen, was der Kungelverein da wieder ausheckt.
21. September, ein Montag
In Ahrenshoop mit Mutti und Vati – schreibt man wohl besser „mit den Eltern“, wenn man 49 ist, obwohl man doch weiß, dass man in deren Gegenwart immer Kind bleibt?
Zwei Verluste, seltsam ähnlich gelagert und erstaunlich zeitgleich, nämlich gerade heute wieder: Zu J.M. brach ich den Kontakt, seit er unsere kostbaren Musik-Funde der Universität zuschrieb, die sie fälschlich für sich reklamierte. Ein Anderer, A.S., verschmäht Kontakt zu mir, seit ich seinen Film nicht präsentierte. Beide Fälle sind ähnlich, der Vorwurf zielt auf Unterschlagung und Verrat. Beide Fälle sind mit Entschuldigungen nicht zu lösen. Bedrückend.
23. September, ein Mittwoch
Immer noch in Ahrenshoop, im kurzen Eltern-Sohn-Urlaub. Man geht spazieren, man geht essen (Hafen-Restaurant), man spielt Karten (Canasta), durch den Daseinsnebel schimmern die Konturen der prekären Lage. Dann nehmen sie Gestalt an, als die Nachricht der Genossenschaft eintrifft: der Termin zur Unterzeichnung des Mietvertrags platze, der Umzugstermin sei zu verschieben, man bitte um Berücksichtigung. Nun wird’s chaotisch, und die seltsam begütigende Heiterkeit, die ich den Eltern vorgaukle, wird fadenscheinig. Wegen Anbieter-Wechsel habe ich derzeit keine funktionierende sim-card, empfange also keine Anrufe, während Anrufer dennoch gebeten werden, ihre Nachrichten auf Band zu sprechen – das ist alles sehr dumm und legt sich als Schatten auf diese kurzen Eltern-Tage.
Telefonate mit der Mieterberatung ergeben, dass erstens die Baugenossenschaft mit mir keinen Mietvertrag schließen will und mich offenbar am langen Arm verhungern lässt und dass zweitens die Mieterberatung ein Mandat für mich nur unter der Bedingung hat, dass ich Teil der Baugenossenschafts-Konstellation bin. Ich stecke in einer miserablen Mangel dieser Spießgesellen. Emails und Telefonate absolviere ich in der Mittagspause (mit dem geliehenen Handy der Mutter!), während die Eltern Mittagschlaf halten, nachdem wir in einem zwanghaft sanierten Zingst auf dem Deich spazierten und bevor wir zu Abendessen und Canasta übergehen.
Doch ich werde gereizt. Gereizt, wenn sie durch lautes Kartenspielen die Pensionsgäste aus dem Saal vertreiben, die dort lesen und entspannen möchten; gereizt, wenn mein Vater bei einer Kellnerin, die eine männliche Stimme hat, die Bestellung mit betont tiefem Bass aufgibt, weil er das humorvoll findet; gereizt, wenn in Gegenwart anderer Menschen Gefrotzel in Zänkisches umschlägt; gereizt, wenn der Vater bei offener Tür äußert, er müsse jetzt pupsen; irgendwie sind sie immer wieder öffentlich peinlich, so dass ich mich frage, wie man mit solchen Eltern jemals gesellschaftsfähig werden soll. Da ich sie und mich nicht vor ihnen schützen kann, bin ich mir dauernd selbst peinlich. Und da lese ich doch tatsächlich die in den Pensionsregalen ausliegende Biografie von Philipp Lahm.
6. Oktober 2016 12:51