Gerald Koll
Das fünfzigste Jahr (78/79)
25. September 2015, ein Freitag
Gestern Morgen von Ahrenshoop zurück nach Berlin. Ein desolater Urlaub bei allem Bemühen. Das Bemühen machte alles vielleicht noch schlimmer, noch verzweifelter. Die Bösartigkeiten und Feindseligkeiten schmieden sich in die eiserne Kette dieses Jahres.
Gestern noch alle Umzugsvorbereitungen zurückgefahren.
01. Oktober, ein Donnerstag
Mit Hellmuth Karasek starb gestern wieder mal ein virtueller Begleiter des literarischen Lebens. Gestern auch schloss ich Nietzsches Also sprach Zarathustra ab – eine Erleichterung nach diesem irgendwie ja schrecklichen Buch. Endlich wieder Proust.
Da hole ich gestern mein Fahrrad von der Reparaturwerkstatt, und auf der ersten Tour kriegt es einen Platten (genau dasselbe passierte nach der Reparatur im August, und da frage ich mich doch, ob „ostrad“ wirklich so eine empfehlenswerte Werkstatt ist). Das geschah auf der Rückfahrt vom Dojo etwa in Höhe Jannowitzbrücke. Ich schob das Rad unschlüssig eine Weile hin und her, bis ich endlich entschied, es abzuschließen und mit der U-Bahn nach Hause zu fahren. (Mist: Im Fahrkartenautomaten ließ ich meine EC-Karte stecken.) In der U-Bahn bekam ich eine SMS von I., ich möge ihr den geliehenen Memory-Stick bitte persönlich geben und nicht ins Dojo legen – wo ich ihn allerdings bereits deponiert hatte … also nach Hause, ins Auto, mit dem Auto ins Dojo, Memory Stick einsammeln, mit dem Auto zur Jannowitzbrücke, Fahrrad in den Kofferraum wuchten, mit offener Heckklappe (genau wie im August) durch die Stadt zur Werkstatt, Rad anketten und mit dem Auto nach Hause.
Mein neues Hobby: der Geburtstag des Aikidoka K. Heute Abend steigt zu seinen Ehren unsere dojo-interne Ultrawohlfühl-Zeremonie, und weil ich wenig Besseres zu tun hatte (der Artikel ist längst abgeschickt, aber die FAZ meldet sich nicht), schrieb ich ein Huldigungs-Gedicht. Ich bin ein hoffnungsloser Hineinsteiger, in alles muss ich mich immer hineinsteigern, in jedes Projekt, jede Schrulle, jede Liebe, jede Feindschaft, jeden Berg muss ich mich hineinsteigern und klettere dort, wo andere nicht mehr mitwollen. Apropos: Gestalt angenommen haben Pläne für einen größeren Trekking-Urlaub in Peru: also die Anden. Sehr schöne Touren gibt es da. Mal prüfen, ob ich die Höhen aushalte.
Ansonsten ist gerade der Alpen-Galopp fertig, eine Foto-Film-Montage zur Alpenwanderung mit dem musikalischen ‚Schnellzugs-Galopp‘ der Ersten Fränkischen Bauernkapelle.
Leider macht die Montage nicht so viel Spaß. Die Außentemperatur sinkt. Die 18°C sind nicht gerade Frost, aber kuschelig sind sie auch nicht, wenn man nur am Schreibtisch sitzt und keine Kohlen mehr für den Ofen hat. Elektronische Nachfragen bei der Genossenschaft bezüglich der Wohnung werden nicht beantwortet. Und da ist B., der Irre aus dem 1. Stock, den vorgestern vor der Haustür die Idee überkam, er und ich könnten uns doch eine Wohnung teilen – er selbst sei ja dauernd in Barcelona. Dieser Wahnsinnige! Allein diese Idee in die Welt zu setzen, lässt mir den Angstschweiß auf die Stirn treten. Nicht auszudenken, er fixt die Genossenschaft mit diesem Irrsinn an.
Ich bin gespannt, was passiert, wenn diese dauernde Anspannung durch Umzug und Krankenkassenwechsel abfällt. Wahrscheinlich werde ich sofort krank. Die Familie scheint, so weit ich höre, derzeit nicht bei bester Gesundheit zu sein: Schwester U. soll in der Firma einen Nervenzusammenbruch gehabt haben – also dasselbe wie vor einem Jahr. Ihren lädierten Knien geht es langsam besser. Den Knien der Schwester S. eher nicht. Und Neffe M. hat am After einen ätzenden Abszess, der in zwei Schritten weggeschnitten werden muss. Das Koll-Genom ist eine Selbstzerstörungsanlage.
Mutti erzählte mir am Telefon von der Gettorferin Frau H., die während Muttis aktiver Zeit als Gymnastik-Lehrerin keine besonders freundliche Rolle gespielt habe und kürzlich den Begräbniswald aufsuchte, wo ja auch die Kolls ihr Bäumchen reserviert haben. Dort hat man einen schönen Blick aufs Meer. Ihn genoss auch Frau H., stürzte allerdings dabei von der Steilküste zu Tode.
Draußen vor der Espresso-Bar hörte ich einen Passanten telefonieren: „Ja … Töpfe hab‘ ick … ja, Formalin och, den Leichenüberweisungsschein och … hab ick, alles klar!“
7. Oktober 2016 02:46