Gerald Koll
Das fünfzigste Jahr (89)
4. November 2015, ein Mittwoch
Direkt nach dem Training: ein Abend mit Frau S., der kessen und cleveren Frau S., in die ich mich recht gern verlieben würde. Ich bin nur zu sehr in den Kitty-Körper vernarrt, als dass ich mich ohne weiteres umstellen mag auf den S-Körper, der völlig anders ist. Ein Graus ist das. Frau S. macht wenig Hehl aus ihrer Neigung. Im Gegenzug lasse ich’s mir gefallen und kann doch nicht recht einschwenken. Dabei könnte alles so nett sein: Frau S. holt fix vom Asiaten allerlei Lukullisches, es ist Sekt im Haus, die Kerzen brennen, und Frau S. hat Lust auf meine geliebte Serie Extras, sieht Folge für Folge, neun Folgen lang bis weit, sehr weit nach Mitternacht. Geht es denn paradiesischer? Es wird so spät, dass Frau S. glaubhaft macht, bei mir übernachten zu müssen – die Kulturtasche hat sie bereits mitgebracht. Ich richte das Sofa her und denke: flexibel ist sie und immer wieder imposant souverän.
Obwohl: Sie beendet Sätze erschreckend oft mit dem ins Ungefähre zielenden „also“. Als müsse man sich Ungesagtes – ja: Weiterführendes – noch dazudenken. Und überhaupt: Nicht auszudenken, bei der nächsten Gelegenheit die Zügel schießen zu lassen. Dass da bloß nichts Schlimmes geschieht.
Heute morgen: doch recht müde. Mein privates Familienalbum ergänzt um die Jahrgänge 1990 bis 2000. Bilder von abgeliebten Lieben. Melancholie auch angesichts eigener Alterungsspuren, die in den letzten Jahren besonders deutlich sind – totale Ergrauung, Aushärtung des Gesichts, Verlust alles Weichen und Vollen, nicht zu vergessen die rapide zunehmende Abhängigkeit von der Sehhilfe, die mich inzwischen, ohne dass ich es zugegeben hätte, zum Brillenträger gemacht hat, obwohl ich mich seit jeher als Nicht-Brillenträger verstehe – so wie jemand, der sich den Titel des Rauchers verbittet, obwohl er täglich raucht. Es setzt schon verstärkt 2007 ein, ungefähr mit Berlin, dieser Stadt des sichtbaren Siechtums.
4. November 2016 13:53