Andreas H. Drescher

DER TAG NACH DEM TOD

Mein Blick wird stumpf angesichts der stummen, von Großvater verlassenen Dinge, von denen jedes mit einer eigenen Fremdheit gegen mich ansteht. Da ist es wieder, das ungelenke Starren, das sich schon in meiner Kindheit angekündigt hat. Aus meinem Blick während der Nachtangst in die Heillosigkeit des Dunkels. Ein Starren, das kein Ende finden kann, da sich jeder Gegenstand in der Nacht aus dem Bezug zum Menschen zurückzieht und nur noch für sich selber da ist. Bald halte ich es nicht mehr aus in der Fremdheit der Gegenstände und springe eilig die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Als ich wieder vor Großmutter sitze, spreche ich von dem Schutz, der in meinen Kindernächten von ihrem Atem neben mir ausging. Da strahlt sie.

Es ist wahr. Nur ihre Fülle, ihre breite Wärme (Sie lacht, weil sie damals so viel schwerer war als jetzt.) bewahrte mich vor all der Leere. Sie war so sehr da, dass das Nichts nicht ankonnte gegen sie. Schon ihr Atem setzte eine eigene Geschichte gegen das Klaffen. Ihre Stimme hatte durch ihr Erzählen vom Fundevogel oder Frau Holle den Raum schon in einer Weise vorgeformt, dass sie das durch ihre langen Atemzüge nur noch aufrechtzuerhalten und zu bestätigen brauchte. Gleichgültig, wie vollkommen uns die Dunkelheit des Schlafzimmers umgab, es war kein Schwarz darin, nichts stand mehr stockschwer um meine Augen, wie wenn ich allein war, nichts griff mehr nach mir, nichts saugte mehr an mir, Großmutter war schließlich bei mir.

Nun lächelt sie ihre Bettdecke an, blinzelt dabei aber ein paarmal kurz hintereinander, sodass ich nicht sicher bin, ob ich sie nicht überfordert habe. Ich versuche mich an meine einzelnen Sätze zu erinnern, kann es aber nicht. Es scheint mir, als hätte ich sie unmittelbar an meinen Gedanken teilhaben lassen wollen. So fasse ich das noch einmal ein wenig griffiger zusammen:

„Ich war eben beschützt von deinem Atem. Er schob mir alle ängstigenden Figuren ganz ruhig in seine Nischen zurück. Es war eine wahre Pracht.“

Dann aber nennt sie einen Begriff, der mir bewusst macht, wie sehr ich sie unterschätzt habe, obwohl es kein Begriff von ihr, sondern einer der Groß, ihrer eigenen Großmutter, ist: „Johannisangst.“ So hatte sie die Furcht ihrer Enkel vor der Nacht genannt. Großmutter erinnert sich daran, dass die Groß einer Nachbarin riet, eine Eichenmistel dagegen unters Bett zu legen.

„Deine Anwesenheit war Magie genug. Das Fassen und Schnappen um mich her konnte mich nicht mehr erreichen, wenn du nur neben mir lagst.“

Was ich sagen will, ist etwas anderes. Dass es diese Nicht-Figuren, dieses seltsame Weben des Numinosen in der Nacht, nicht geben konnte, wenn sie im Raum war. In der Atmosphäre um sie her verlor das Schreckliche den Boden unter den Füßen, wie sonst ich ihn in dessen Gegenwart verlor. Das war Großmutters milde Verneinung des Nichts.

(Auszug aus dem Roman „Schaumschwimmerin“)

18. Mai 2022 09:10