Christine Kappe
Die Briefe meines Vaters
Ich kann mit meinem Vater prima über Probleme reden, aber zwei Tage später kommt ein Brief, in dem er alles erklärt und ins Weltgeschehen einordnet. Und dann kann ich ihm nicht mehr glauben. Meist möchte ich den Brief gar nicht lesen. Schade eigentlich. Aber ich sehe, dass mein Vater es gut meint. Da ich nicht will, dass er denkt, ich hätte den Brief nicht gelesen, überfliege ich ihn kurz, um ihm wenigstens antworten zu können, wenn er mich dazu fragt und um ihm ein gutes Gefühl zu geben. Ich finde, das ist eine viel ehrenwertere Motivation, als die, den Brief verstehen zu wollen. Aber mein Vater sieht das nicht so. Mein Vater wird zutiefst enttäuscht sein, wenn ich nicht versuche, seinen Brief zu verstehen… d.h. wenn ich ihn als Mensch sehe, wird er mich als Unmensch sehen, und wenn ich ihn als Unmensch sehe, könnte ich ihn nicht verstehen… und wenn ich ihn nicht verstehe, wird er wütend werden und mir einen weiteren Brief schreiben.
11. Juni 2013 11:33