Sylvia Geist
Golems in Weißensee
Wenn er ihr seine Handschuhe reicht im geweißelten Raum
der Anlage, ist es das Ritual vor einer Notoperation,
Vorbereitung einer Arbeit zur Erforschung der Lage:
Steine, Spätwintersonne, die kurze Selbstvergessenheit
der zwei. Sie könnten ein Paar sein, das sich auf der Suche
nach Verwandtschaft verlaufen hat, stundenlang
an einer Mauer entlang im Kreis wieder und wieder
Hoffnung schöpft, bis eines von ihnen eine Stelle erkennt,
ein im Efeu gekentertes Grab, einen Giebel jenseits der Mauer,
ein Tor, hoch wie zwei Männer mit Speeren gegen die
Erinnerungen der Toten, die Geister der Lebenden.
Er hat Ideen, Tickets für Reisen in Zeiten nach oder neben ihnen.
Sie denkt an eine Leiter. Einmal klettert er hinüber, verschwindet
auf der anderen Seite der Straße, während sie wartet,
seine Handschuhe in den Händen, und als er zurückkommt,
hat er für sie nichts Besseres als ihre Verwunderung. Ein Passant
hört sie und ruft die Polizei, doch die findet den Weg nicht.
Wir werden noch, scherzen sie, bei diesen Knochen enden.
Oder es ist in der Mitte – aber da irren sie schon, ernsthaft,
als wären sie mehr als Lehm auf Füßen, ins rauschende Herz
des Geländes, vom Dunkel gefasst wie die Lampe am Eingang.