Hendrik Rost
iDiot
Das Monster lebt ganz sicher nicht mehr. So nannten wir den Mann mit dem Kehlkopfkrebs, der auf unserer Station lag. Sein Hals war eine große offene Wunde, die auf ein Lätzchen nässte, das er um den Nacken trug. Wenn wir im Fernsehzimmer saßen und er heranschlürfte, um zu rauchen!, flohen wir aus dem Raum. Der Anblick war unerträglich: ein Sterbender, der sich die Kippe direkt an ein Loch im Kehlkopf hielt und keuchend inhalierte.
Wir lagen zu sechst im Zimmer. Auf unsere Station gab es nur Patienten mit Problemen vom Hals an aufwärts. Die Ärzte waren alle plastische Chirurgen, auf Rekonstruktion spezialisiert, die zugleich Zahnärzte waren. Keiner von uns war aus kosmetischen Gründen hier. Im Bett neben mir lag ein Mann mit zertrümmertem Kiefer. Er hatte beim Fußball ein Knie ins Gesicht bekommen. Seine Frau brachte ihm jeden Tag stumm und treu Suppe, eine köstliche, pürierte orientalische rote Linsensuppe, von der auch wir anderen kosten durften. Sie ging leicht durch den Stromhalm, mit dem wir unsere Nahrung aufschlürften. Vom Krankenhaus bekamen wir meist Pudding, ganze Karaffen voll. Nur die Schmerzmittel dämpften den Hunger etwas.
Bei sechs Leuten mit verdrahtetem Kiefer im Zimmer klingt es wie in einem Bienenstock, ein ständiges Nuscheln oder Gesumme. Das heißt, wir waren nur fünf. Der andere Patient hatte einen Tumor hinterm Ohr, und er war der einzige, der normal essen durfte. Wir möchten ihn nicht, und seine Mahlzeiten waren begleitet von unseren gierigen Blicken und der schlürfenden Stille, wenn der Pudding durch die Halme gezogen wurde. Er hatte die nervtötende Angewohnheit, den Halbliterbecher Kefir, den seine Frau ihm jeden Tag brachte und den er zu jeder Mahlzeit trank, ausgiebig zu schütteln. Das war sein Ritual.
Einmal öffnete sein Bettnachbar den Aludeckel nur ein kleines Stück und bog das Blech zurück, so dass der Becher ungeöffnet aussah. Der Esser nahm den Becher hob an zu schütteln und spritzte sich von oben bis unten voll mit Kefir. Wir lachten verdruckst durch die Drähte – und er war einfach nur perplex, wie hatte er nur vergessen können, den Deckel schon geöffnet zu haben.
Sein Bettnachbar, unser Krankenzimmerclown mit Turbanverband, hatte sich bei einer Motorradfahrt in Thailand den Schädel, alle Kiefer, das Jochbein, die Hand und noch etwas gebrochen. Er war bekifft nachts ohne Helm unterwegs, musste einem Lkw ausweichen und kollidierte mit einer Palme. Sein Kopf war auf die doppelte Größe angeschwollen und transportfähig war er keineswegs. Aber er kaufte sich ein entsprechendes Attest und flog mit den kaputten Knochen nach Hause, weil er, so sagte er, in Thailand so oder so gestorben wäre im Krankenhaus. Er wurde mit einem Schlauch durch die Nasenlöcher ernährt. Manchmal bat er mich, seine Pfeife zu halten, damit er trotz der verbundenen Hand Gras rauchen konnte. Bier goss er sich im Waschraum durch einen Trichter in die Nase. Ich weiß nicht, wie er noch leben könnte.
Einmal schlich ich mich abends aus der Klinik und machte einen Spaziergang im Park. Ich ging und hörte ein leises Klacken, das mich begleitete. Ich drehte mich um, niemand da. Kein Steinchen im Profil der Sohle. Nach einer Weile merkte ich, woher das Geräusch kam, und es lief mir kalt den Rücken herunter. Ganz leicht stießen bei jedem Schritt die losen Unterkieferstücke gegen den Oberkiefer. Es waren meine Zähne, die mir dumpf und haltlos im Munde klapperten. Ich war nichts als mein eigenes Gespenst, das um die Häuser zog.