Christine Kappe
Kabakovs Fliege
Und da sehe ich eines Morgens, lange vor Sonnenaufgang, „Kabakovs Fliege“: in Gestalt einer lebensmüden Wespe sitzt sie an der Briefkastenanlage in der Wilhelmstraße 6 und wärmt sich im Licht der Außenbeleuchtung. Es ist ein milder Herbst, aber sie wird nicht mehr lange zu leben haben. Sie bewegt sich kein Stückchen, während ich die Zeitung einwerfe, was für dieses kleine Tier ein plötzlicher Sturm, ein kleines Erdbeben bedeuten muss.
Die Fliege war – bevor Kabakov über sie schrieb – ein kulturell wenig aufgelades Motiv, mies gezeichnet, hing sie, vergilbt, herausgerissen aus einem Kinderbuch, umgeben von gnoseologischer Leere, auf seiner Veranda.
Meine Wespe ganz ähnlich: farblich matt, leblos, angestrahlt von einem überdimensionalen Schweinwerfer, als würde sie auf einer Bühne stehen, um sie herum schwarzes, rein funktionales Metall, rostfrei, welches sich nur wenig aus der lichtlosen Nacht herauslöst, Nacht, oder endloses, dunkles Häusermeer. Die Erscheinung weist in zwei Dimensionen: Einmal begegnet mir hier ein Fitzelchen von der riesigen Natur. Andererseits zeigt ihr resthaftes Dasein, wie der Mensch die Natur nicht achtet, sie quasi neben ihm herexistiert.
Das Ignorieren dieser Parallelwelt ist gleichzeitig die Bedingung für unsere Verwunderung, unser Erschrecken: Ist es nicht übertrieben, diesem winzigen Wesen so eine Aufmerksamkeit zu geben? Und wir ahnen: Nein, ganz im Gegenteil, hier IST etwas, während wir nur sein wollen.