Hendrik Rost
Nachsaison
Ich parke vor der Deutschen Bank. Es ist dunkel und Herbst. Manche haben Ferien.
Die Ostsee rollt von Finnland in die Lübecker Bucht. Polare Luft und sternenklarer Himmel. Die Uhr an der Promenade zeigt 6:50 an, 4 Grad und 3 Beaufort. An der Seebrücke sehe ich Schaumlinien. Im allerersten Licht steigt ein Trupp Möwen auf und landet auf dem Dach des Maritim Hotels. Im Frühstücksraum sitzen See- und Seelenromantiker, die auf den Sonnenaufgang warten, der sich über Boltenhagen ankündigt.
Die Wellen kommen in Serien. Ganz langgezogen und drei, vier hintereinander. Ich springe von der Seebrücke und paddle auf das sich rasch abkühlende Meer. Alles ist elementar: Die arthritischen Walker auf der Seebrücke übersehen mich, der Gänsesäger da vorn in den Wellen ignoriert mich, die Ostsee schmeckt salzig.
Zwei Stunden später laufe ich an der Wasserlinie zurück. Eine Gymnastikgruppe am Strand macht angedeutete Kniebeugen. Ein Kreis wird gebildet, linksherum, rechtsherum.
Zuhause hänge ich den Anzug zum Trocknen auf den Dachboden. Die greise Nachbarin kommt schnaufend die Treppe herauf. „Wenn man alt ist“, sagt sie, „fragt man sich, wo all die Jahre geblieben sind.“
Was soll ich sagen? Jeder Trupp Möwen ein Jahrzehnt. Die Jahre liegen auf einem Konto bei der Deutschen Bank. Sie sind dunkel und herbstlich. Sie haben Ferien und sie rollen von Finnland heran, ganz früh im leichten, empfindlich kalten Wind. Sie sind elementar. Sie ignorieren einen. Sie schmecken salzig.
14. Oktober 2009 14:51