Nikolai Vogel

Sehen, gesehen werden

Die vergessene Brille, über Nacht durch den Regen vom Festland genommen, mittags gefunden im Flussbett der Isar …

Die ausgedruckten neuen Passbilder, zugeschnitten von allen vier Seiten, verbergen sich noch, verlegt, schon bevor sie amtlich wurden …

30. Juli 2009 01:23










Marjana Gaponenko

Piotr I

Der Teich

Du betrittst dieses Zimmer, du verlässt es,
du wanderst hindurch, fällst in die Tiefe,
rast in die Höhe, während du sprichst
Unaussprechliches; lautlos bewegst du den Mund,
als würdest du beten um Regen.
Und schon schielt er tausendäugig auf dich
und steigt die Stiegen hinab. Fuß um Fuß, Ton um Ton,
immer höher, um auf dem eigenen Blick auszurutschen,
dem zu Boden geworfenen. “Vater, wir bitten …” sagst du.

Kind, dich sah ich in der letzten Reihe sitzen,
frisch und süß, die Kirchenbank, dein Hemd, dein Haar …
Ob es schon morgen war? Ob es noch gestern wird?

Es blätterte dein Buch in sich, strich übers Fell sich selbst
von A bis Z, von E bis X; ein Nesselfalter saß auf Seite 4.
Den Kopf an einen Baum gelehnt – du selbst.
Dein Traum sprach auf der Schulter sitzend dir ins Ohr:
“Mein Kind, steh auf, lauf in den Wald –
da wächst ein Wunderkraut – lauf ins Feld!”

Dich sah ich im Gestrüpp am Teich;
Auf warmer Erde lagst du lang und sangst:
“Steh auf, mein Kind, lauf in den Wald, ins Feld ..”
Der Regen kroch aus Löchern hervor.
Er starrte wie erstarrt zu dir hinab,
er schaute aus dir selbst zu sich empor .

Dich sah ich stehen vor dem Haus.
Ein Blitz tanzte einbeinig darin.
Dein Auge, so hell in der Nacht,
dein Mund, gebissen vom Mond,
sang “Steh auf, mein Kind“.

24. Juli 2009 10:14










Hartmut Abendschein

Ferme Lachat sur Moron

Saint Brais. Der Schriftsteller Fritz Michel (Quartettfritzli) holt uns mit dem Fahrrad ab. Man übernimmt uns die Hälfte des Gepäcks. Und auch des Laufbiers. Man schwitzt in untergehender Sonne. Sinnt über: Redrum. Shining. In a cold blood. (Was brennt denn da? Eine Strassenlampe?. Ja, eine Strassenlampe. Was sollte es denn sonst sein. Als eine Strassenlampe. Richtig! Eine Strassenlampe usw.)

Und: Wir haben wieder bis zur Schrift geraucht, wie man hämisch bemerkt.

Aber: wir entwickeln das Nicht-Paradigma Alltag / Urlaub, setzen strukturell ausser Kraft, beispielsweise: eine Wanderkarte heute zu lesen findet analoge Entsprechung in Arbeit, reproduziert Mechanismen des Alltags, macht in der Anderzeit heimisch, stattdessen: Pilze fressen. Liegestühle aufstellen. Beach boys hören. Undsoweiter.

Im Jura darf man das:
Pferdeschnitzel
Pusteblumen
Sauerampfer
Brennnesseln

Konkret:
Baumstümpfe
gesägtes Holz
halber Mensch

(Wir stocken das Hausfliegendepot auf und teilen die Zeit ein. Der Vormittag dir. Der Mittag mir. Der Rest dem Rest. Und die Nacht.)

Nebenbei: die Arbeit am Modus nun entstehender Schrift findet vor Zäunen statt. Dort sitzt ein Kind tagelang und staunt über Kühe. Die staunen zurück usw.

Und: Michael Endes zeitgemässe Kindermedientheorie. Frau Waas zu Jim: „Mach doch mal das dumme Radio aus“. Jim zu Frau Waas: „Ein Radio kann doch gar nicht dumm sein! Höchstens das, was gesendet wird.“ Jaja, der „häsliche Rundfunk“. Der „herrliche Rundfunk“. Die besten Zeiten …

Und: There ist no hardware.

(Wir sprechen weiter über die Kinder- und Puppenfilme der 70er Jahre. Wir entdecken dort noch die Möglichkeit, in den Bildern verharren zu können. Die nur allmähliche Verplottung von Bild. Der Tanz um und die Tendenz zur Skulpturalität von Erzählung. Die Schöpfung von momentartigen, aber haltbaren Gebilden. Heute müssen wir sehen: schnelle Handlung ohne Kette. Spielkonsoliges. Luftigkeiten. Ephemera.)

Und noch einmal: Diachronie vs. Synchronie. Rezeptionsverschiebungsthesen. Man beobachtet vermehrt diachronen Konsum zuungunsten von tiefenstrukturellem Schnickschnack. Wir nennen das neutralerweise mal so. Neutral also auch: einfach alle Combattanten zu beleidigen. Fritz Michel entwickelt zum Frühstück abweichende Eigenthesen.

Noch dieses: wer auf sprachreflexiver Ebene arbeitet … weiss automatisch um die Unzulänglichkeit von Realität. (Die Pilze, denken Sie nun vielleicht? Weit gefehlt!) Man macht sich ständig bewusst: die meisten konventionellen Erzählformen sind ganz unsinnige und überflüssige Gebilde, da sie nur Realität zu reproduzieren versuchen: als Begleitwerk zur Realität. Als auktoriale Realität, die Wasweissich verbürgen soll. Der Autor aber ist nicht einmal tot. Er ist reine Sprache.

[notula nova supplement Va]

20. Juli 2009 08:38










Andreas Louis Seyerlein

~

0.02 – Wie würde Hannah Arendt über das Wagnis der Öffentlichkeit formulieren in unserer Zeit, in einer Zeit, da Menschen ohne jede Scheu und in gut begründeter Voraussicht, zutiefst verletzt zu werden, mit Worten, Bildern, Filmen öffentlich in intimste Winkel ihrer Seelen leuchten? Einmal, als Computer noch mittels Transistorröhren rechneten, bemerkt sie mit ihrer tiefen, rauen Stimme, das Wagnis der Öffentlichkeit sei für eine Person nur möglich im Vertrauen auf die Menschlichkeit der Menschen selbst. /

montauk

> particles

18. Juli 2009 20:58










Andreas Louis Seyerlein

~

0.02 – Kurz nach Mitternacht, das Ende eines federleichten Tages, an dem ich, gegen den Morgen zu, eine feine Geschichte erlebte. Das war nämlich so gewesen, dass meine Hand, meine rechte Hand, während ich schlief, das Bett verlassen hatte. Sie schwebte, indem ich träumte, von einem Gewitter angerufen worden zu sein, fast bewegungslos über dem Boden und wurde in dieser Haltung nach einer Erinnerung zärtlich fotografiert, weil ich vor einigen Monaten notiert hatte, dass ich, wenn ich sage: meine schlafenden Hände, von Händen spreche, die ich nie gesehen habe. Dieser Satz ist nun natürlich nicht ganz unwahr geworden, weil ich immerhin noch keine Ahnung habe, wie meine linke Hand aussehen könnte, während sie schläft. Außerdem habe ich meine schlummernde Hand nicht selbst gesehen, mit eigenen Augen, wahrhaftig, in echter Zeit, sondern zeitverzögert und durch das Auge einer Kamera gebändigt. – Stunden voll Freude vor mich hin gestaunt.
schlafhand

> particles

15. Juli 2009 16:21










Andreas Louis Seyerlein

~

1.17 – Ein Freund erzählte von Nächten, die er vor 30 Jahren in den gefährlich gewordenen Strassen und auf den Dächern über der Stadt Isfahan verbrachte. Das Rufen tausender Stimmen: Allah-o-Akbar. Wir haben das erfunden, um den Schah zu vertreiben, auch ältere Menschen konnten sich in dieser Weise bemerkbar machen. Wir kämpften für Demokratie, hörten BBC, um herauszufinden, ob irgendjemand wahrnimmt, was mit uns geschieht. Kannst Du verstehen, wie ich mich jetzt fühle? – Wie furchtbar wurden sie betrogen, eine Generation im Exil. – Kurz nach Mitternacht. Fereshteh Ghazi, junge Journalistin, notiert: Tonight, like past nights, the chants of „Allah-o-Akbar“ were heard on roof tops of Tehran & other cities. Seit Tagen schreibt sie sich die Finger wund. Persiankiwi aber, dessen Zeichen ich viele Stunden lang auf dem Bildschirm erwartete, ist verstummt. Vorgestern noch Zeilen auf Twitter folgende: > just in from Baharestan Sq – situation today is terrible – they beat the ppls like animals 3:34 PM Jun 24th I see many ppl with broken arms/legs/heads – blood everywhere – pepper gas like war 3:35 PM Jun 24th 
they were waiting for us – they all have guns and riot uniforms – it was like a mouse trap – ppl being shot like animals 3:53 PM Jun 24th saw 7/8 militia beating one woman with baton on ground – she had no defense nothing – sure that she is dead 3:55 PM Jun 24th so many ppl arrested – young & old – they take ppl away – we lose our group 3:59 PM Jun 24th ppl run into alleys and militia standing there waiting – from 2 sides they attack ppl in middle of alleys 4:01 PM Jun 24th all shops was closed – nowhere to go – they follow ppls with helicopters – smoke and fire is everywhere 4:03 PM Jun 24th phone line was cut and we lost internet – getting more difficult to log into net 5:05 PM Jun rumour they are tracking high use of phone lines to find internet users – must move from here now 5:09 PM Jun 24th reports of street fighting in Vanak Sq, Tajrish sq, Azadi Sq – now – Sea of Green – Allah Akbar 5:14 PM Jun 24th in Baharestan we saw militia with axe choping ppl like meat – blood everywhere – like butcher – Allah Akbar – 5:16 PM Jun 24th they catch ppl with mobile – so many killed today – so many injured – Allah Akbar – they take one of us – 5:18 PM Jun 24th Lalezar Sq is same as Baharestan – unbelevable – ppls murdered everywhere – 5:19 PM Jun 24th they pull away the dead into trucks – like factory – no human can do this – we beg Allah for save us – 5:23 PM Jun 24th Everybody is under arrest & cant move – Mousavi – Karroubi even rumour Khatami is in house guard – 5:28 PM Jun 24th we must go – dont know when we can get internet – they take 1 of us, they will torture and get names – now we must move fast – 5:34 PM Jun 24th thank you ppls 4 supporting Sea of Green – pls remember always our martyrs – Allah Akbar – Allah Akbar – Allah Akbar 5:36 PM Jun 24th Allah – you are the creator of all and all must return to you – Allah Akbar 5:39 PM Jun 24th

> particles

27. Juni 2009 20:42










Hans Thill

Das heisse Fleisch der Wörter XXX: Abdelkebir Khatibi

Gedächtnis-Notizen (für Männer)

Er sagt: gib mir dein intimes Denken.
Sie sagt: gib mir sein Einverständnis.

Sie sagt: ich selbst bin fremd meiner Umarmung.
Er sagt: in der Reglosigkeit des Begehrens ohne ein Morgen.

Sie sagt: der Engel erscheint den Frauen nicht.
Er sagt: er erscheint und verschwindet, dabei mißt er die Entfernung.

Er sagt: ich schenke, empfange dich, indem ich dich anerkenne.
Sie sagt: stell dir vor, du wärst verfolgt, aufgelöst in deiner Kindheit.

Sie sagen: soviel Lust für eine flüchtige Nacht.
Sie sagt: jede Nacht wendet sich ab vom Tag im Aufblitzen eines Augenblicks.

Er sagt: schreib!
Sie sagt: vergiß dabei die Götter und ihre Engel.

18. Juni 2009 12:26










Sylvia Geist

Strontium

hiesige himmelsrichtungen
nach zehrschäden und heuschreckenvöllerei zu bestimmen wäre leicht
südliche lebensläufe zu unterscheiden von solchen aus unseren provinzen
    ein kinderspiel in jahrhunderten die heimat unserer leibspeisen festzustellen
gäbe es schon methoden. übrig blieben überallkarten in
knöchernem esperanto

vollständiger entschlafen
in einem künftigen smithsonian als im erdarchiv die
vor uns. niemand der sie lesen könnte – besonders nachts
    wenn du die ganze straße überblicken könntest weil niemand
dich ablenkt davon reist der glaube weit. aber
nicht allein

zu sein
ist ein zimmer im raum. im dunkel wohin
wir dauernd unterwegs sind die gezähmte landschaft ringsum auch
    die blüht ihre große rapsfeldfreude die lautstärke am mittag
und wie es sein kann mit plänen und
auf lavendeltreppen.

    Schön, dass Du hier bist, lieber Martin!  

     
5. Juni 2009 14:27










Andreas Louis Seyerlein

~

5.05 – Die ganze Nacht über fiel leise Regen. Das Geräusch des Wassers, ein Geräusch des Bodens, der Stämme, der Dächer, der Regenrinnen. Vielleicht, weil in ihm Zeit enthalten ist, Tropfen für Tropfen zu einer regelmäßigen Bewegung, höre ich dieses Geräusch als ein beruhigendes Geräusch. Oder auch deshalb, weil ich das Wesen der Kiemenmenschen in mir trage, weil ich von Menschenwohnungen erzähle, die unter Wasser stehen. An diesem kühlen Morgen im Mai ist noch etwas Wesentliches festzuhalten, ein angenehmes Wort, das Wort Leuchtfeuer. Und dass ich von Kranichen träumte, ja träumte, selbst ein Kranich unter Kranichen zu sein. Wir flogen eine Küste entlang. Ich erinnere mich, dass ich durstig gewesen war, weil viel Sonne vom Himmel brannte. Die Kraniche bemerkten bald, dass mich die Hitze quälte. Sie suchten nach meinem Schnabel, um mich mit Wasser zu füttern. Aber ich hatte keinen Schnabel, sondern einen menschlichen Mund, weshalb sie bald aufgaben, mich füttern zu wollen. Stattdessen näherte sich einer nach dem anderen, um nachzusehen, welch seltsamer Vogel mit ihnen nach Norden flog.

> particles

31. Mai 2009 15:37










Mirko Bonné

Willkommen, Björn Kiehne!

Nacht an den Hafenbecken

Elektrische Kristalle,
verworfenes Licht,
Nacht an den Hafenbecken.

Schiffe liegen schweigend,
schwebende Schatten,
schwarze Löcher in den Nachtlaken.

Aus dem Asphalt strahlt Sonnenwärme,
der eingefangene Tag wird frei,
und unter meinen Schritten
birst der Kies.

Ein salziger Wind
trägt Geräusche heran,
die leise verhallen
zwischen den Stelzen der Kräne.

Mit diesem Gedicht habe ich im Sommer 2008 Björn Kiehne kennen gelernt, in einem Lyrikworkshop, der alljährlich vom Wilhelm Raabe-Zentrum in Braunschweig veranstaltet wird. Björn Kiehnes Gedichte erinnern mich in ihrem so respektlosen wie einfühlsamen Zugriff an den Ton und die Sujets des jungen Wolfgang Borchert, sie kommen aus dem Lied, führen ins Lied zurück und haben nicht selten den Wind, Geräusche, Töne und Klänge und Stimmen von Tieren und Menschen zum Thema. Dabei sind sie still, unaufdringlich, durchpulst von einer warmen verhaltenen Ironie, die um ihre Wehmut weiß.

Der Tag riecht nach nasser Erde
Eine Lerche steigt auf
Ihr Gesang zerreißt die Wolken

weit weg
irgendwo
beginnt es
zu regnen

Ich erinnere mich an eine Zeit, als es die größte denkbare Freude für mich war, zwei solche Strophen, sieben Zeilen, in ein Notizbuch zu bringen. Ich finde, wenn ich Björn Kiehnes Gedichte lese, eine Ahnung von dieser Wonne wieder, und es freut mich nicht zuletzt deshalb sehr, wenn ich nun gemeinsam mit Andreas Münzner, dem ich für sein Engagement danke, Björn Kiehne aufs herzlichste im Goldenen Fisch begrüßen kann.

*

5. Mai 2009 14:07