Christian Lorenz Müller

UND DANN IN DIE UNSTERBLICHKEIT

Dieses Gedicht ist unsterblich.
Es weiß, dass alle Schulkinder, die es auswendig lernen müssen,
genervt die Augen verdrehen,
dass sie aber später, als Lehrerinnen, Germanisten, Eltern
sich zuverlässig an seine Denkwürdigkeit erinnern werden.

Dabei hat es durchaus gemischte Gefühle
für seinen Schöpfer, der, fast fünfzigjährig,
mit einem Vormittag nichts bessres anzufangen wusste
als ein Gedicht über ein unvergessliches Gedicht zu schreiben,
der originell fand, was ihm zugleich peinlich war,
aber nicht peinlich genug, um es nicht sofort
im Internet zu posten, wo es seinen Weg
nach Marbach fand und dann in die Unsterblichkeit.

„Ach“, kokettiert das Gedicht,
„es ist eine Last, unvergesslich zu sein.
Ständig wird man zitiert und falsch verstanden,
immer durchsucht dich jemand
nach einer Wahrheit, die es gar nicht gibt.“
Insgeheim aber lacht es sich doch ins Fäustchen,
freut sich ehrlich an sich selbst,
simpel gestrickt, wie es ist.

13. Oktober 2020 11:37