Mirko Bonné
Wege durch den Spiegel
Im Nachtwind Gespenster, die Äste, wie sie so
schwanken, mich erinnert das schwarze Fenster
an mein Jungsgesicht, ein Beben war es ja eher,
Gezittere, dieses Schwanken, und innen Zweifeln,
oder täusche ich mich? Ich sehe sie noch vor mir,
meine Augen, immer ist da dasselbe so rastlose
Blicken, ein Unwissen, Rätseln, Erratenwollen,
ja. Mit demselben Gesicht saß ich als Schüler
weinend auf dem Sockel des Spiegelschranks
meiner Großeltern. Blickte tief in den Schmerz,
aber half der Blick? War er poetisch? Mein Opa,
zwar tot, doch spielte eine umso größere Rolle,
er wurde erzählt, neu erfunden. Ein Vierteljahr-
hundert lang wehrte sich meine Großmutter
gegen das Erlöschen, und in ihrem Gesicht
sah ich Chemnitz, grün die Straßen vor dem
Krieg, die Tram in Lodz, verrußt ihre Fenster,
Flucht nach Westen, Flucht nach Süden, Groll
über Schuld, Flucht in Erinnerungen, Scham
vorm eigenen Dünkel, Festhalten am Osten,
Ordnen wertloser Papiere … Die See ist glatt,
bei Hohwacht Spiegel. Der goldengrüne Wald,
gewachsen bis zum Küstensaum. Alte spazieren
den Strand entlang, Enkel toben. Geister treiben im
dunklen Meer, und ich hinterm Fenster, am Schreiben.
*
11. Februar 2019 22:14