Sylvia Geist
Wiederfund (10): Aus dem Leben eines Satzes
„Ich nehme die Sonne und werfe sie…“: Als Marie Sklodowska im November 1891 in einem Hörsaal der Sorbonne diesen Satz hörte, war sie vierundzwanzig Jahre alt. Nachdem sie als Erzieherin gearbeitet, ihrer Schwester Bronia das Medizinstudium in Frankreich finanziert und daheim in Warschau ihren kranken Vater gepflegt hatte, war sie gerade erst in Paris angekommen, um ihr Physikstudium aufzunehmen, und nun hörte sie von Paul Appell diesen Satz, von dem sie später Eve Curie erzählte und den diese in die Biographie ihrer Mutter aufnahm.
Marie war schon in Warschau von Mathematik und Physik bezaubert gewesen, der Satz von der geworfenen Sonne war ihr nur eine Bestätigung, dass sie sich endlich auf dem Weg ins Berufsleben befand. Zu welchen wunderbaren Entdeckungen der führen würde, wusste sie nicht.
Doch ist das, was Marie Curie – im Laufe von Jahren, das heißt: während ungezählter wenig wunderbarer, sondern unbequemer und vermutlich zuweilen auch recht eintöniger Stunden, die sie in einem staubigen, im Winter kaum beheizbaren, zum Behelfsabor umfunktionierten Hangar zubrachte – sind also die Stoffe, auf sie die dort in den Kesseln mit brodelnder Pechblende stieß, überhaupt „wunderbar“ zu nennen? Bis sie und Pierre Curie die Elemente Radium und Polonium nachgewiesen hatten, waren ihre Hände verbrannt von Säuren, mit deren Hilfe sie die neuen Stoffe isoliert hatten, und von der Arbeit an der Erforschung einer weiteren Entdeckung, die sich darin verbarg, nämlich von dem Element, um das man nun die Reihe Feuer, Wasser, Erde, Luft erweitern musste, vom Element Strahlung.
Ahnte sie, wenn sie ihre verbrannten Hände betrachtete, dass die Auswirkungen dieser Emanation über solche Oberflächenschäden hinausgehen würden, dass das fünfte Element schon begonnen hatte, im Körperinnern, im Knochenmark, die Leukämie auszubrüten, an der sie erkranken würde? Schwer vorstellbar, dass die Wissenschaftlerin sich der schlichten Hypothese, die sich aus den Verbrennungen an den Händen ergab – dass es zu weiteren, inneren Verbrennungen kommen konnte – hätte entziehen können. Und wenn sie eine Gefahr ahnte, kam ihr da der Gedanke, die Arbeit mit dem Element Strahlung aufzugeben oder auch nur einzuschränken?
Wohl kaum. Die Frau, die von dem Satz „Ich nehme die Sonne und werfe sie…“ so hingerissen, so mitgenommen worden war, dass sie ihrer Tochter davon erzählte wie von einem Initiationsmoment, hätte sich bei aller Rationalität nicht gegen die riskante Arbeit entscheiden können. Dabei dachte sie auch in den Dingen des täglichen Lebens sehr vernünftig, und wenn sie einen praktikablen Weg gesehen hätte, sich gegen eine mögliche Gefahr zu schützen, hätte sie es getan. Leider gab es einen solchen Weg nicht, schon deshalb nicht, weil man Art und Ausmaß der Risiken ja erst noch in Erfahrung bringen musste, und abgesehen davon ging es, wenn sie die Pechblende rührte, Proben nahm und untersuchte, maß und rechnete, auch nicht darum, vernünftig zu sein. Die Verfassung, in der man arbeitete, lässt sich dagegen aus einer überlieferten Bemerkung Pierre Curies ableiten: „Ich wünsche mir, dass es eine wunderschöne Farbe hat.“
Nicht nur diesem Hinweis nach ist es fraglich, dass die sich erst allmählich herauskristallisierende Bedeutung ihrer Entdeckung sie antrieb. Es dauerte vier Jahre, bis ein Dezigramm reinen Radiums isoliert war (nicht gerechnet die Zeit, die es brauchte, die neuen Elemente zu erahnen), eine Spanne, gegen die sich die der Entwicklung der Radiumindustrie und der Anwendungen des Stoffs unter anderem auf medizinischem Gebiet kurz ausnimmt, vier Jahre in einem zugigen Hangar, in denen noch gar nicht abzuschätzen war, wann die Arbeit zu einem greifbaren Resultat führen würde und welche Nutzeffekte sich daraus ergeben würden. Pierre Curies Wunsch aber wurde mehr als erfüllt. Das Element – das winzige Stückchen, das man schließlich aus acht Tonnen Schlacken destilliert hatte – war, wie Marie notierte, von der „schönsten Farbe“: es leuchtete.
Ich glaube, Marie ging es bei alledem immer noch und immer weiter um den Satz, der in ihr lebte wie ein Bild, in dem sie sah, was für sie zum Glück gehörte: die unerhörte Freiheit darin, seine Ausblicke auf die Möglichkeiten des sonderbaren Handwerks, die sie damals, 1891, zu erproben begann. In der Poesie dieses Satzes fand sie all das wieder, und wenn sie ihre verbrannten Hände betrachtete, war es vielleicht, als sähe sie im Grunde nur das Werk der gedachten Sonne, die sie seit dem Tag im Hörsaal hatte werfen wollen – aber diese Annahme ist natürlich schon nicht mehr Teil der Geschichte, des offiziellen Lebens dieses Satzes.
Sie gehört zu seinem zurückgezogenen Dasein in meinem Kopf. Ich begegnete dem Satz, als ich vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, in der Curie-Biographie, die meine Mutter mir in der heimlichen Hoffnung geschenkt hatte, irgendwie mein Interesse an einem Fach wecken zu können, in dem meine Leistungen einfach unterirdisch waren, und obwohl ich keinen Schimmer davon hatte, wie Formeln wohl funktionierten, spürte ich in dem Gleichnis von Paul Appell, dass sie so etwas wie ein Konzentrat sein mussten, transparent, gehaltvoll und schön. Auch viel später noch, als mir langsam schwante, dass ich eben nicht zu denen gehörte, die im Chemielabor die Abenteuer erleben können, von denen ich als Schülerin geträumt hatte, blieb mir eine Art Kinderfreude an dem Wenigen, das ich von dort mitnehmen konnte.
An den Satz dachte ich dann aber lange nicht mehr. Erst neulich traf ich wieder auf ihn, als ich mir das Gedicht Nocturne noch einmal ansah. „Ich habe schwarze Hände fürs Gras“, lautet der Schlussvers, und schon als ich ihn schrieb, fragte ich mich, woher dieses Bild gekommen sein mochte, wovon die Hände des lyrischen Ich da eigentlich schwarz sind. Von Druckerschwärze? Immerhin eine Spur, in einer äußeren Schicht des Gedichts. Als ich es mir nun vor ein paar Wochen wieder vornahm, fiel es mir endlich ein: es ist Ruß, und unter dem Ruß sind die Hände verbrannt von der Sonne des Satzes.
(Strahlung Sprache / Notizen)
23. Februar 2009 15:54