Christian Lorenz Müller
ZU EMPFINDLICH SELBST FÜR KLEBEBAND
Auf jedes neue Signal reagierst du mit Klebeband,
du hast rechtzeitig etliche Rollen gekauft,
kein braunes, dünnes Paketklebeband,
sondern eines aus elastischem Gewebe,
und nun ritscht du bei jedem Alarm
rote oder schwarze Streifen von einer Rolle,
du pickst das zehnte, zwölfte X
über unser Wohnzimmerfenster
und sprichst von deiner Mutter, die im Bad
einen großen, unverklebten Spiegel hat,
deine Nerven zerfallen zu Scherben
wenn du dir vorstellst, wie sie dort sitzt
und sich anschaut, siebzigjährig, allein
am anderen Ende der Stadt, es ist der Spiegel,
für den dein verstorbener Vater
Anfang der 80er sechs Stunden Schlange stand,
es war der letzte aus einer Lastwagenladung,
die am Vortag gekommen war, und glücklich
machte er sich damit auf den Weg,
es war Frühling, und als er einen Park passierte,
hatte er plötzlich blühende Tulpen unter dem Arm,
Leute, die ihre Jacken ausgezogen hatten,
liefen unter seiner Achselhöhle dahin,
und dann, auf einem breiten Prospekt,
erschrak eine junge Frau so sehr vor sich selbst,
dass dein Vater den Spiegel zu Boden stellte
um sich in aller Form bei ihr zu entschuldigen,
bei Irina, die dich ein paar Jahre später
vor diesem Spiegel wickelte, vor diesem Spiegel,
in dem du dich das erste Mal angelächelt hast,
diesem Spiegel, den deine Mutter nun für zu alt hält,
für zu empfindlich selbst für Klebeband,
wieder Alarm, in der Ferne ein Einschlag
der die Fensterscheiben klirren lässt.