Andreas Louis Seyerlein

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An einem Morgen, da es heftig schneit, erzählt Silja im Präpariersaal von einer Erscheinung, die bei ihr zu Hause, in Schweden auf dem Lande, zur alltäglichen Erfahrung werden kann. Wenn das Schneelicht unter Wolken den Horizont verbirgt, wenn der Ort, an dem man sich befindet, grenzenlos zu sein scheint: Das große Weiß. Auch im Präpariersaal, hell beleuchtet, habe sie immer wieder beobachtet, ihre eigene Position in Raum und Zeit für Momente zu verlieren. Hör zu, sagt Silja, jene Frau hier, die auf unserem Tisch liegt, ist mir vertraut geworden. Wenn ich morgens zu ihr komme, habe ich den Eindruck, sie bereits lange Zeit zu kennen. Sie liegt auf dem Rücken, und sie scheint sehr geduldig zu sein. Ich weiß nicht, ob Du das verstehen kannst? Ich habe manchmal den Eindruck, dass diese tote Frau auf uns wartet. Ich hatte in den ersten Tagen des Präparierkurses die Vorstellung, sie würde uns zuhören oder schlafen und träumen. Und wir bewegen uns also behutsam, als wären wir sehr junge Eltern, die ein uraltes Kind hüteten. Ist das nicht merkwürdig? Ich habe immer wieder den Eindruck von Ruhe, von Stille, von Schlaf. Ich habe überlegt, was wäre, wenn wir den Körper dieser alten Frau nicht zerlegen würden, sondern nur sehr sorgfältig pflegen. Wir würden dann viele Jahre, Tag für Tag und Morgen für Morgen in den Saal kommen und sie umsorgen, damit sie uns nicht zerfällt. Wir würden sie vor dem Licht der Sonne schützen, vor Pilzen und würden sie befeuchten, wir würden sie davor bewahren, zu Staub zu werden. Irgendwann wäre sie dann jünger als wir, ich meine, ihre Erscheinung. Wir würden dort auf dem Tisch eine jüngere Frau vor uns sehen. Das ist sehr merkwürdig, dass ich so etwas denke, findest Du nicht?
mikroskop

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27. September 2009 11:12