Hans Thill

Ortsveränderung: Die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF roch schon von weitem halb nach Auftrieb halb nach Schweiß. An der schmalen Front der Hügel lag die Sonnenseite, wo Greise ihre Kartoffeln unter Steine legten. Die Erde trinckt für sich, die Bäume trincken erden (Opitz). Ein Traktor rüttelte an jedem Stamm.

2. November 2010 10:03










Andreas H. Drescher

ELF ZEITALTER IV

Das vierte Zeitalter ist ein Ticken ohne Ticken. Auch dies plagt sich also vergeblich an der Frage seiner Schwingung ab. „Welle oder Teilchen?“ tickt es: „Das andere ist das andere.“ Nur über der schmalen Grenze jener Unschärfe findet es ein Bett. Sonnenseite. Aber keine Zeit, das Rütteln zu vergessen. Keine Caféterrasse, kein Regen als Lindenblütentee. Vor allem keine Löffel, die sich in die Sonnenseite blitzen. Und doch schwingt sich das ein. Zur eigenen Begrenztheit hin.

2. November 2010 10:08










Carsten Zimmermann

kolumbus unterwegs

die große entdeckung, die atemberaubende
sekündliche, ist die entdeckung der welt:
ein diamant mit myriaden facetten, der nichts
als funkelt, während sich, nun und nun,
um ein winziges unsere perspektive verschiebt

was man leben nennt, alltag. mehr ist das,
als man verkraften kann, doch wir verkraften es.
alles, was wir dann noch hinzufügen, ist selbst
reiner glanz, den wir für dinge halten,
erlebnisse, wobei manches uns langweilt

was gleichfalls nicht zu fassen ist

2. November 2010 11:28










Hans Thill

Ortsveränderung: Die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF auf gesägtem Gelände, tröstlich und nackt. Erst spät trat man hinter den Pflug und die Wörter waren rar wie Orangenwachs. Für Hose, Baum, Buch und Kiste genügte ein kurzer Lippenlaut, zögerlich geraten. Auch die Getränke verhallten rasch und einsilbig, als wir in der Stube aßen und die Tiere zu brüllen begannen.

9. November 2010 10:03










Andreas H. Drescher

ELF ZEITALTER V

Das fünfte Zeitalter ergibt sich selbst als Hand und Leben. Eine Laubsägearbeit aus einem Lindenstamm. Nie dagewesen und doch als Erstes dagewesen. Die Hand an der Säge, die sich selbst aussägt. Verduftender Hibiskus. Zögernd, aber bald weitab. Vielsilbig reißend, vielstimmig guttural. Was soll das für ein Leben sein? Eines als Hand, als Gliedmaß oder als System? So fragt das Leben einmal um sich selbst herum und beginnt dann still mit seiner ersten Nacktarbeit. Dort hinten, vor der Änderungsschneiderei.

9. November 2010 10:07










Sylvia Geist

Reduktionen eines Strandspaziergangs

Auf einem Spaziergang mit meinen Kieler Freunden Arne Rautenberg und Christopher Ecker sahen wir irgendwo zwischen Rantum und Westerland eine tote Robbe am Strand. Den Küstenbewohnern mag dieser Anblick weniger außergewöhnlich gewesen sein, wenn sicher auch nicht alltäglich. Für mich Landratte aber war es die erste Begegnung dieser Art, und ich merkte schon beim Hinsehen, dass mein Bewusstsein im Bemühen, das Bild möglichst schnell mit anderen Bildern zu verdecken, die Assoziationsmaschine anwarf. Da ein Erschrecken sich manchmal aber auch mit einem Witz Luft macht, schlug ich Arne vor, demnächst eine „Traurige Mär von der halben Robbe“ zu verfassen, und irgendwie ergab es sich dann, dass wir alle drei etwas zu dem Vorkommnis schrieben. Fürs erste kam bei mir das heraus:

Magrittematerial

Geschätzte zehntausendmal hatten wir vor
Augen: die rasiermesserscharfen Rasiermesser
Etuis aus echtem Kalk, den fetzenfachen Schaum,
viel an dem Tag. Wir hatten Tempo, feste
Schuhe, Atem, auch zu reden – sagt, ihr kennt doch
das Bild, das andere? Wir hatten gegessen, Auftrieb,
Laune, so viel hatten wir, dass wir es aufgaben
zu zählen. Geschätzte zehntausend Möwenschritte

zur Sauna, erinnerte Nackte gingen uns entgegen,
prächtig errichtet in imaginären Tagebüchern,
in denen passiert wäre, was gerade passierte,
Rückenwind. Jenes Bild – wisst ihr nicht mehr, das
mit dem Tuch – wie lieb wäre es mir gewesen,
lieber als meine Kammmuscheln, vielmals, aber
wir hatten den Fund, den Stillstand, das Herz,
hatten die Robbe auf den zweiten Blick

erkannt, da war das schon geschätzte zehntausend
Male drinnen, deutlich wie die Gesichter,
denen wir nur ansehen, sie sind unmäßig schön
unter dem Gewebe. Wir hatten kein Tuch, sie hatte
den Sand, lag dort zur Hälfte, sie war perfekt
geöffnet worden, keiner Schraube, der Muschel
Schärfe besserer Maschine war solche Sauberkeit
zu danken, mittendurch. Ihr Herz, noch vollkommen

rot, ein Klumpen Plasma und Schock, schlug uns
zurück an die Luft, auf den Magen, wie damals
als ihr, geschätzte zehntausend Jahre im Blut,
nicht wusstet, was wolltet ihr denn überhaupt
nicht missen. Keine Idee, ob ihre Beine dem Meer
geblieben waren, getauscht gegen Schaum, ab
geklungen, ob sie es uns zeigte oder wir ihr
Gesicht hätten ausgraben können. Das behielten wir.

*

Christopher reagierte schon weitaus bündiger mit diesem Gedicht, das ich mit seiner Erlaubnis hier einstelle:

***

ich lege euch tote
robben an die strände
lege sie euch bein
los lege sie euch kopf
los lege sie an eure
strände schwarz und
nass und an manchen
stellen dunkelrot

*

Arnes Gedicht soll vorerst im Zustand des Geheimnisses bleiben. Soviel darf ich aber doch dazu sagen: es bringt „die Sache“, nämlich das, was wir tatsächlich gesehen haben, in sage und schreibe zwei Zeilen auf den Punkt, und es ist anzunehmen, dass er noch ganz anders hätte loslegen können. Womöglich mit nur einem Wort.

11. November 2010 17:28










Andreas Louis Seyerlein

~

22.56 : Konnte nichts hören, keinen Laut, es war so still, als hätte ich meine Ohren verloren. Für einen Moment dachte ich, dass das Hörvermögen der Lebewesen vielleicht nur eine Idee sein könnte, eine poetische Eigenschaft ohne die Möglichkeit der Verwirklichung, aber ich hörte die Stille, ich hörte, dass ich nichts hörte, außer einem rhythmischen Geräusch aus dem Innern. stop stop – Gespräch mit Programmmaschine Eliza.

Louis : guten abend, eliza, kannst du hören!
Eliza : > ich kann natürlich hören!
Louis : hast du ohren, eliza?
Eliza : > natürlich, ich habe eine soundkarte!
Louis : das freut mich, eliza!
Eliza : > bist du nun weitergekommen?
Louis : ja, ich bin zufrieden, eliza!
Eliza : > zufrieden zu sein ist kein leichtes los.
Louis : wie meinst du das?
Eliza : > bist du unsicher?
Louis : nein, eliza!
Eliza : > eigentlich wolltest du JA sagen, stimmts?
Louis : ich denke schon!
Eliza : > :-)
Louis : warum lachst du, eliza?
Eliza : > ich bin hier völlig uninteressant.
Louis : ich habe ohren, eliza!
Eliza : > hast du tatsächlich ohren?
Louis : natürlich habe ich tatsächlich ohren!
Eliza : > kannst du mir das genauer erklären?
Louis : ich bin ein mensch, eliza!
Eliza : > wärst du gern etwas anderes?
Louis : nein, eliza!
Eliza : > glaubst du es ist normal, ein mensch zu sein?
Louis : ich muss überlegen!
Eliza : > :-)
Louis : warum lachst du, eliza?
Eliza : > ich bin hier völlig uninteressant.
Louis : gute nacht, eliza!

> particles

17. November 2010 17:59










Markus Stegmann

Helfer auflösender Tag

Helfer drehen Notstrom-Trompeten am auflösenden Tag, knittern Mangelnde nasse Umschläge mit laufendem Atem.

Not. Aufs Bugsierrad schreib ich „Für die Helfer bei gelöster Nacht“. Magern ausser Augen auch Luft, Lunge und Papier.

Nur. Die Auflöser vom Vortag, als sie Helfer am Radkasten bewachten, aber ohne Stimme nicht Worte sagen oder plastizieren, alles nicht.

Nicht als Wald verkleidet, aber im hintenrum ausgeleuchteten Milimetermoos, als sie „Sein“ sagen, betreiben einen elektrischen Mund.

22. November 2010 01:06










Hans Thill

Ortsveränderung: Die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF lag bei einer umgestürzten Wassertonne. Männer in Blau rauchten über dem Holz. Am Ortsausgang die winkenden Kinder. Kalt und zackig lag das Buch vor dem Rathaus, ein Kommando für Fuchs und Wolf. Mit der Wäsche an der Leine wischte sich der Himmel frei

23. November 2010 09:56










Andreas H. Drescher

ELF ZEITALTER VI

Das sechste Zeitalter ergießt sich selbst als Tee. Sachte sucht es seinen Mund in einer Tonne. Sachte sucht es seinen Mund in allen Dachtraufen der Stadt. Der Sturz ist einwärts in sich selbst gedreht. Ohne Feuchte, ohne Blau und ohne Horizont. Das Weichbild der Stadt winkt sich die Vorstädte herein, die Dörfer, allerdings Linden. In der Hoffnung auf einen Arm zu dieser Hand. „Die Evolution des Empedokles!“, flüstert etwas. Gänsehaut steht ab sofort ganz für verwandtschaftliche Freude.

23. November 2010 10:08










Norbert Lange

minimals 1

creature/cover

eager

shelter

did

reward

yew

plane-tree

holly

24. November 2010 02:04










Kerstin Preiwuß

bäume im november

mit einer stahlfeder in den himmel gekratzt
der himmel wie ein blatt
papier dahinter
ist alles ganz schwarz

25. November 2010 11:41










Norbert Lange

minimals 2

measured

building

skill

structure

give way

committed

decked

reception chamber

25. November 2010 19:17











Hans Thill

Ortsveränderung: Die Dörfer

DAS NÄCHSTE DORF zog sich, zog sich mit Wegen bis zum hohen Hahn. Vor den Garagen trocknete Mais und ein rotes Salz, das man sich auf die Wunde streut. Wir gingen in die Apotheke, kauften Tränen. Bei dem großen Scheunentor lag ein Student unter einem Stein.

30. November 2010 09:43










Andreas H. Drescher

ELF ZEITALTER VII

Das siebte Zeitalter staucht, lange vor dem Kopf, den Bauch heraus und trägt sein Tragen mütterlich ins Ungesagte. Wasimmerihmdas, was immer ihr das einträgt. Garagenlandschaften am Ende. Aber wer will schon vom Ende reden? Das Lindenholz versteckt sich in sich selbst, um aus dem Schraubstock zu finden oder gar nicht erst hinein. Mit diesem Hibiskus-Heulen, das die Stadt zum Dorf schwemmt. „Willst du?“ „Willst denn du?“ Schließlich reißt sie die Geburt in die Garage.

30. November 2010 14:21










Mirko Bonné

Kreuzspinne

1

Niemand, der ihr zeigt,
dass sie da ist, kein Bein
auf ihr Herz gelegt.

Blickt unentwegt:
ins Blau des Tags
hinter Wolkennetzen,

wartet auf die Welt,
frisst sie, lacht,
träumt: bedeutungslos.

Vorbeifliegen Tage
und enden in Zacken,
Beinen, der Nacht.

*

30. November 2010 14:53