Sylvia Geist

Reduktionen eines Strandspaziergangs

Auf einem Spaziergang mit meinen Kieler Freunden Arne Rautenberg und Christopher Ecker sahen wir irgendwo zwischen Rantum und Westerland eine tote Robbe am Strand. Den Küstenbewohnern mag dieser Anblick weniger außergewöhnlich gewesen sein, wenn sicher auch nicht alltäglich. Für mich Landratte aber war es die erste Begegnung dieser Art, und ich merkte schon beim Hinsehen, dass mein Bewusstsein im Bemühen, das Bild möglichst schnell mit anderen Bildern zu verdecken, die Assoziationsmaschine anwarf. Da ein Erschrecken sich manchmal aber auch mit einem Witz Luft macht, schlug ich Arne vor, demnächst eine „Traurige Mär von der halben Robbe“ zu verfassen, und irgendwie ergab es sich dann, dass wir alle drei etwas zu dem Vorkommnis schrieben. Fürs erste kam bei mir das heraus:

Magrittematerial

Geschätzte zehntausendmal hatten wir vor
Augen: die rasiermesserscharfen Rasiermesser
Etuis aus echtem Kalk, den fetzenfachen Schaum,
viel an dem Tag. Wir hatten Tempo, feste
Schuhe, Atem, auch zu reden – sagt, ihr kennt doch
das Bild, das andere? Wir hatten gegessen, Auftrieb,
Laune, so viel hatten wir, dass wir es aufgaben
zu zählen. Geschätzte zehntausend Möwenschritte

zur Sauna, erinnerte Nackte gingen uns entgegen,
prächtig errichtet in imaginären Tagebüchern,
in denen passiert wäre, was gerade passierte,
Rückenwind. Jenes Bild – wisst ihr nicht mehr, das
mit dem Tuch – wie lieb wäre es mir gewesen,
lieber als meine Kammmuscheln, vielmals, aber
wir hatten den Fund, den Stillstand, das Herz,
hatten die Robbe auf den zweiten Blick

erkannt, da war das schon geschätzte zehntausend
Male drinnen, deutlich wie die Gesichter,
denen wir nur ansehen, sie sind unmäßig schön
unter dem Gewebe. Wir hatten kein Tuch, sie hatte
den Sand, lag dort zur Hälfte, sie war perfekt
geöffnet worden, keiner Schraube, der Muschel
Schärfe besserer Maschine war solche Sauberkeit
zu danken, mittendurch. Ihr Herz, noch vollkommen

rot, ein Klumpen Plasma und Schock, schlug uns
zurück an die Luft, auf den Magen, wie damals
als ihr, geschätzte zehntausend Jahre im Blut,
nicht wusstet, was wolltet ihr denn überhaupt
nicht missen. Keine Idee, ob ihre Beine dem Meer
geblieben waren, getauscht gegen Schaum, ab
geklungen, ob sie es uns zeigte oder wir ihr
Gesicht hätten ausgraben können. Das behielten wir.

*

Christopher reagierte schon weitaus bündiger mit diesem Gedicht, das ich mit seiner Erlaubnis hier einstelle:

***

ich lege euch tote
robben an die strände
lege sie euch bein
los lege sie euch kopf
los lege sie an eure
strände schwarz und
nass und an manchen
stellen dunkelrot

*

Arnes Gedicht soll vorerst im Zustand des Geheimnisses bleiben. Soviel darf ich aber doch dazu sagen: es bringt „die Sache“, nämlich das, was wir tatsächlich gesehen haben, in sage und schreibe zwei Zeilen auf den Punkt, und es ist anzunehmen, dass er noch ganz anders hätte loslegen können. Womöglich mit nur einem Wort.

11. November 2010 17:28