Nikolai Vogel
Pulverschnee fällt
Das Weiß wächst die Wege hoch und draußen toben Eisbären. Eine Läuferin mit beschneiten Wimpern. Die Luft als Vorhang.
1. Dezember 2010 22:49
Das Weiß wächst die Wege hoch und draußen toben Eisbären. Eine Läuferin mit beschneiten Wimpern. Die Luft als Vorhang.
1. Dezember 2010 22:4919:17
Der Maler stiller Leben malt still
vierzigfünfzig Jahre
mit Farben und Wasser Farben des Wassers
mit liegendem Boot mit stehendem Mann
während über Planken, Rumpf und Rippen
Wellen streichen
Man hält still für den Maler stiller Leben
seine Pinsel streichen Farben des Wassers
mit Farben und Wasser vierhochfünfzig Jahre
(Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)
5. Dezember 2010 17:1819:52
Am Schluss der Blauen Stunde hält ein
Grillenschrei den Sommer fest – –
schrille Grüße aus dem Blaugebet
auf das sich alles eingelassen hat:
Verschwörung schwärmender Vögel
Das Ufer ist ein Saum aus blauer Tusche.
Überall Ultramarin, worin der Mond …
thront. Auf seiner Strahlenlandebahn
heben Hevelmänner ab zur Himmelfahrt
durch seine runde Luke. Er wird sichtbar:
Johann Friedrich Sörnsen
Ein Lichtbild: Das Boot ist sein Bett,
im Bug liegt ein Berg, im Rücken ein Kissen
Seegras. Das fischte und verkaufte Sörnsen
als Matratzenfüllung:
bis 1960
Vierzigfünfzig Jahre später
schiebt eine Welle Beute
an die Bootanlegestelle.
Schwer der Atem. Seufzt sie?
Grillen schweigen, Blau lässt los:
der Mond stieg nie, wir fallen
(Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)
5. Dezember 2010 18:5700:00
Der Gemeine Mond träufelt Licht.
Die Gemeine Schafgarbe legt es in
trugdoldig angeordnete Körbchen.
Der Pappelwald, ein anerkanntes Seefahrtszeichen,
bildet eine Pflanzenformation aus 37, 38 Stämmen.
Wurzeln pappeln miteinander unterhalb der Erde.
Der Herbst beginnt.
krsch, der Marder füllt
den Brutkasten mit Köpfen seiner Beute.
uhmp, die Graugans hat zu dieser Stunde
nicht mit dem Seeadler gerechnet.
gnirg, den Fuchs verstimmt, dass ein Kaninchen seinen Bau betritt:
Beißhemmung. Er geleitet den Besuch nach draußen.
(Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)
6. Dezember 2010 00:5302:30
Blickt man vom anerkannten Seefahrtszeichen
auf das altbekannte, blinzelt drüben glühend rot
ein vertikaler Augenschlitz: ein Drache? Schreie.
Doch nähert man sich langsam, ändert sich die Lage.
Auf der Mole knirschen unter Sohlen leer gelutschte Leichenreste:
Die Knochengasse führt zum Monsterclown.
Mantel weiß, schwarzer Kragen, das Gesicht geweißt.
Zwei gekreuzte Stäbchenaugen, gelb der Nasenknopf
Lichter bilden einen Kranz um seine Mützenkrempe.
Amputierter Lotse.
Ausgelacht
von fressenden Geschwadern.
(Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)
6. Dezember 2010 01:0204:30
Bollro lag hier,
Agos und Fründ, Slimöv, Wombat, Jecca.
Gekerbtes Verzeichnis der Angeketteten.
Auch Schröder. Sogar Möwe.
Durchs Rauschen ein einsamer Schrei –
kläglich
Die Nacht nimmt Witterung auf.
Ein Stein wärmt meine Hand.
Nässe beißt in Bauch und Darm.
Sörnsen!
Sörnsen.
Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)(
6. Dezember 2010 01:0805:47
Ein Hauch von Rouge, ein rosa Band,
zu früh, es ist noch eine Stunde hin
zum offiziellen Aufgang,
doch das da, dieses Rosa da – –
obszönes Rokoko auf jadegrünem Dekolleté – –
der Mond zieht sich entsetzt zurück.
(Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)
6. Dezember 2010 01:1106:34
Blau erfüllt wie jeden Tag
seinen Farbauftrag.
Schwarze Galloways auf gelbem Grund
stehen stiller als ein Kahn am Abend,
wenn Windhauchpinsel Flanken streichen.
Sechsuhrneunundvierzig: Da verliert ein Rind,
als sein Kopf zur Erde sinkt,
das Spiel, wer sich zuerst bewegt.
Starenwolken wabern, Möwenmeuten
nehmen Stege in Beschlag, ignorieren
einen grauen Vogel, Cutaway mit Buckel.
Er gehört nicht zur Familie.
Er ist ich, gehört zu mir
Wir sind uns fremd
Das Stillleben sind wir.
(Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)
6. Dezember 2010 01:1307:09
Siebenuhrneun
wendet sich ein Austernfischer ab.
Siebenuhrneun
steht an der Stirn der Mole ein Leuchtturm
Siebenuhrneun
verrutschen Kiesel, huschen Kaninchen, hängt ein Kasten wie gewohnt, doch
genau jetzt
steht
da
die Sonne
siebenuhrzwölf
zieht sie die Wolkendecke wieder über
siebenuhrzweiundzwanzig
saugt sie am Rosa, glüht und gähnt
siebenuhrsiebenundzwanzig
vertagt sie noch einmal den Dienstantritt
siebenuhreinundreißig
erfolgt, geschieht, ereignet sich der dritte gloriose Auftritt: DIE SONNE
gießt Rubingold in die Wellen: irgendwie sehr peinlich.
Die Lotseninsel wendet sich zum Tagewerk.
Nun gute Nacht, ihr nachtaktiven Mücken
in eurem Heckenrosenparadies.
Der Handwerker ist auf dem Weg zum Schuppen: „Moin!“
(Gedichtzyklus in acht Uhrzeiten entstanden auf der Lotseninsel Schleimünde vom 23. auf den 24. September 2010, als bei Vollmond der Sommer in den Herbst überging)
Mit Dank an Inga Banse und Jörg Grabo
DAS NÄCHSTE DORF hatte ein Sektierer seinen Katzen vermacht. Kinder saßen in den Binsen, jedes so ein Stück Fell in der Hand. Die Stengel auf den Feldern waren zerbissen, aus dem Kirchenportal hörte man Streichmusik. Es war wie in alten Bildergeschichten (Epinal): die Früchte stapelten sich bei den Stallungen am Ausgang. Hatten die Frauen an Spielgeld gerochen? Waren die Männer auf Motoren unterwegs?
7. Dezember 2010 11:12Das achte Zeitalter streicht sich schon als Genesung ein. Ein Seufzen legt sich sich selbst als Lippen nahe. Das polyphone Knistern hinter diesen Lippen, wie es die Kindern mögen. Brausepulver, hibiskusfarben, mit lindem Lindengeschmack. Jetzt stellt das alle Kirchenuhren vor. Um schneller groß zu werden. Und steigt dann musikalisch in die Wetterhähne ein. Denn Umschwünge weichen und weichen, bis auch in diesem Klingen die Tonlosigkeit erreicht ist, die Lehm-Losigkeit. Jetzt.
7. Dezember 2010 16:082
Sitzt den ganzen Tag lang
still auf dem klebrigen
unsichtbaren Balkon,
zitternd mit dem Wind,
während nichts passiert
außer Blechschlangen.
Nachts, Knacken der Bäume,
seilt sie sich ab, trinkt
vom grauen Gras.
Tausendbeiniges Nieseln,
droben Gottes Augen,
der die Fliege nicht liebt.
*
9. Dezember 2010 10:54IX.
die Drohgebärden einer Abreise
die Regenwald vernichtende Rechnung
dein im Dunkeln leuchtender Kuli
ansonsten ein Zug, der nicht hält
das Schweigen einer Privatisierung
ein Pfeil, dessen Spitze relativiert
dein angeborener grüner Pullover
eine unbeworbene Matinee
ansonsten ein leichtes Kaliber
die Grundlegung einer Geheimsprache
deine interaktive Tasse
11. Dezember 2010 14:29Über Schneefelder geht der Wind,
Stille breitet sich aus,
das Heu wartet auf das Kind,
Kerzen leuchten uns nach Haus.
Der Himmel zündet Lichter,
friedlich ruht der See,
über müde Gesichter
streichelt der kalte Schnee.
Ein Engel kommt herbei,
spricht zu deiner Angst,
daß nur soviel Hoffnung sei,
wie du hoffen kannst.
ohne dass zu fest verferste lieder an augenränder
schlagen fällt magerer mäusekot knappes resultat als
ginge ganz hirschberg beim leimholen mit cranach
getünchte helden wessen hermannstadt hörten
parteilose knöchel der handlosen erde der erdenklichen
hirschherde elfenbein meine meterlangen hörschnüre
nur solange deine lippen noch schlagen mäandernde
moldau beim namen „nerventapete“ gewisperte
hülsen lautlos wie vergessene venen
DAS NÄCHSTE DORF hatte ein Bretone ganz hinuntergeschluckt. Jetzt hieß der Flecken nach den Fischen eines nahegelegenen Teichs, in dem die Bauern ihre Traktoren wuschen. Wir hörten in den Monokulturen den Zucker steigen, als wir trockenen Fußes auf dem heißen Band der Wirtschaftswege trabten, klopften wir mit Stöcken auf den weichenden Belag.
14. Dezember 2010 16:27Das neunte Zeitalter spielt mit sich selbst als Unglücks-Neun. Als Zeit odysseeischer Unglückstage und als Stunden auf Golgota. Jetzt, gerade jetzt, verwandelt es die Neun in Wasser zurück. Vom Lindenblütentee. Glasweise. Tassenweise. Von Hand anstatt zu Fuß. Doch nur ein Lindenbalken. Das reicht zum Schweben nicht. Neinnein, in keinem Fall. Neun Jahre stirbt Odysseus jetzt seinen berühmten Tod am Kreuz. Von wieder manchem Kirchturmhahn verlassen. Keiner je gewesen. Keiner.
14. Dezember 2010 17:433
Sieht im Spiegel
des Menschenfensters
das eklige Tier,
weißes Kreuz, Achtbein,
die pralle Leibbeere
wie ihre: ich.
Vor dem Glas hängend
bestarrt sie ein Kleid, rot,
Courbets Kornsieberin.
Vorbeifliegen Tage.
Und Laub trudelt
ins rauschende Gras.
*
16. Dezember 2010 17:15stadtlicht entweicht nicht
christkindlgelbe
morgen dieselbe
wintersommernacht
lichtverschmutzungspracht
(limmatwürfel)
16. Dezember 2010 23:552.18 – Ein Eisbuch besitzen, ein Eisbuch lesen, eines jener schimmernden, kühlen, uralten Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneesschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U-Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unterm Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, vom wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – Guten Abend. Fröhliche Weihnachten!
20. Dezember 2010 19:19DAS NÄCHSTE DORF lag in den Zeilen von Rüben, Kohl und Besen. Die Bewohner trugen Augenklappen mal rechts mal links. In der Mitte stand eine Pyramide. Hier fand früher das Blutgericht statt, unter Buchen, sagte ein Gemeindediener. Wir dachten an Alexander, der dem Kläger nur ein Ohr lieh (Plutarch). Mit tastenden Schritten gingen Knaben über den Kiesweg. Frauen wischten Farbe von den Steinen, die an der Kirchenwand hingen.
21. Dezember 2010 10:00Das zehnte Zeitalter gibt sich bereits unzweifelhaft und tot. Eröffnet nur mit dem Hibiskus einen Blumenladen. Der ist ihm Morgenstern und Abendstern der Portokasse. Vorm Friedhof macht sich das ganz gut. Das Wechselgeld wird ganz in Grabgestecken ausbezahlt. Hellhörigkeit. Ob nicht so gegen Ende doch noch etwas klopft. Ein Feuerwerk aus Linden-Rinden. „Ach, komm! Wer weiß das alles noch und schon!“ Als komme es auf Wissen an, hier, vor der Friedhofsgärtnerei.
21. Dezember 2010 10:284
Weiße Fliegen, kalt,
dem Geschmack nach
altes Wasser, Schnee!
schrie am Fenster
der Zweibeiner, Schnee!
– und da fror sie.
Die Wand lesend,
das Gepilz, glitt sie
zu der Nische,
da lebte etwas,
das fraß sie, damit
nichts mehr begann.
*
Allen Fischen und allen Fischern schöne Festtage!
23. Dezember 2010 11:34X.
eine Panik wie Rauchzeichen am Horizont
der Wechsel in eine härtere Währung
das Summen des Makrokosmos
deine die Lücke schließende Antwort
umsonst ein jahrelanges Manöver
die eingeschmuggelte Vitaminkur
deine den Äther durchdringende Temperatur
ein Schritt, der sich selbst erinnert
27. Dezember 2010 17:52Aus halbwässriger Weser möglichen
Lungenbehältnissen steigen
Lindenrinden ans bespannte ans
bleibesetzte Land bleibt
einer ihrer Arme in ereignislosen
Ringen liegen steigt einer versehentlichen
Milchspur gleich verschüttete
Nehrung der Normannen unter Null
DAS NÄCHSTE DORF roch nach Nelkengestrüpp. Blut in der Pfanne! stand auf einem Wirtshausschild. Eine alte Frau öffnete eine Luke im Fachwerk und rief: Verräter. Wir sprangen über Geländer, ließen die Kinder bei der Garderobe zurück.
28. Dezember 2010 10:37Das elfte Zeitalter findet schließlich zu sich selbst als Zahl. Um dem Feuer vollkommene Quadrate abzustecken. Rechtwinklig. Nach der Dreivierfünf-Regel. In Knoten. In Knoten ohne Knotenmeister. Es sei den Agni selbst gibt sich als Knotenmeister her. Geometrie als Nebenwirkung. Worauf? Auf allen Beipackzetteln der Neurose? Zwang und Zwang. Wer ist da sicher? Vor dem Zusammenbruch der Universen, wenn das Feuer im falschen Viereck aufscheint. Im Viereck aus Hibiskuslinden.
28. Dezember 2010 10:41Innenbahn
Könnte eine Erinnerung sein,
das Abteil, die Innenseite von etwas
aus Schnee, Schnee. Woraus ist dieser
Vorhang: Landschaft mit Himmel um
die Stirn? Ich möchte fragen, da
neigt er den Kopf, dass ich spüre
die blaue Schläfe der Mütze,
die ich nicht tragen kann.
XI.
deine Romane stiftenden Augenbrauen
die Rezeptur einer spontanen Standfestigkeit
vor dem als Fenster erscheinenden Schlupfloch
dein Schlüsselbein, ein beweglicher Anker
die Schüchternheit eines Igel-Imitators
29. Dezember 2010 13:56XII.
deine Anlauf nehmende Stimme
deine nicht als Frage formulierte Gegenwart
31. Dezember 2010 19:10