Gerald Koll

Aus Urnäsch

Jetzt eben, zu dieser Minute, während der Mittagspause einer sportiven Woche im Appenzeller Land, steht die These auf dem Prüfstand, dass das Denken der Wahrnehmung im Wege steht, denn die Herren Aikidoka spielen Schach.

Und Ueshiba, der kleine Gründer dieses Sports, hielt einstmals einhändig einen Stock waagerecht vor seinen Körper. Seitlich stemmten sich Männer dagegen (wie Sklaven am Ruder), doch der Stock bewegte sich nicht einen Zoll. Wie auch sollte er sich bewegen, rief Ueshiba, ich habe doch einen Kreis um euch gebildet!

1. August 2011 15:30










Mirko Bonné

Ein Sommersonntag

1972, im Freibad Marzoll,
Bad Reichenhall. Ich stand,
ein siebenjähriges Hemd,
hoch oben im Föhnwind
auf der Messerklinge des
Siebeneinhalbmetterbretts
und blickte über die Grenze,
bis Großgmain in Österreich.

„Spring!“, riefen mein Bruder
und Onkel Walter. „Spring!“,
rief die ganze hellblaue Welt
weit unten, wo alles gut war.

Bloß ein sonnenverbrannter
Alter mit faltigem Brustkorb,
weißem Spinnennetzbart
und Mütze auf der Glatze
rief mir zu: „Spring nicht!
Bleib oben! Was willst du
denn hier unten?“ Danke,
lieber Günter Eich, danke.

*

2. August 2011 09:47










Gerald Koll

meditation in urnäsch

sitzt du da, morgens, halbacht, auf den matten
meditieren wir. wir meditieren, meditieren wollen wir
aber innen wachsen bilder, die sich türmen,
kaum dass du die augen schließt.

Ists ein turm ists eine mauer ists gestein
und du sitzt mit geschlossenen augen
und bildet sich bruchstein und formen sich türme
und du sitzt und es türmen sich steine

und du schwitzt und du weißt nicht wieso
und wirst kalt und die hitze stiebt auswärts
und wirst turm mit kaltem gemäuer
wirst stein mit geschlossenen läden

und du sitzt und du sitzt und du wartest
dass der schweiß trocknet und blättert und
den körper bloßlegt und die wärme wieder
eindringt und den stein erweichen lässt.

2. August 2011 13:37










Mirko Bonné

Meditation am Kalksee

Meinetwegen: Wir träumen.
Nur wenn ich mir vorstelle,
die begriffsstutzigen Fische
tief dort unten im Wasser.

Ein französischer Denker
kannte sie schon 1637, unter
Papst Urban VIII., und mehr noch.
Er zählte sie. Und sie schwammen.

Weder gab es elektrisches Licht
noch künstlichen Schnee. Nach ihm
gibt es nur Illusionen, sonst nichts,
nicht einmal Brot, wozu auch.

Keiner hat wirklich Hände,
trägt eine Brille oder liebt es,
mit einer Frau, im Sommerkleid,
durch den leeren Raum zu gehen.

*

2. August 2011 18:38










Gerald Koll

Urnäscher Nass

wie das regnet in urnäsch!
betäubt sind aikidoka und kühe,
nasser als wiesen,
kein läuten, kein klongeln aus almen
nur regen und regen ringsherum,
in den anzügen, eingelegt in schweißmolke,
die nicht lüftet, nicht trocknet
bis zum nächsten und nächsten
training im klitschigen urnäsch.

3. August 2011 13:53










Mirko Bonné

Darg

Du sitzt im Bett und liest
in lautem Französisch vor,
was Ferdinand Hodler 1888
am Ufer des Genfer Sees malte.

Im Radio singen Tote vom Leben
in Amherst, am Connecticut River,
dann meldet eine Radiosprecherin
das mitternächtliche Hochwasser.

Ich schlage die Dardanellen nach
– und finde die niederdeutsche
Entsprechung für Moorgrund,
die torfartige Schicht Darg.

*

3. August 2011 20:23










Gerald Koll

miss mandy in urnäsch

miss mandy saß heute in urnäscher bergen auf gebärenden schnecken und empfing gäste zum tee.

miss mandy in urnäsch

herr moll kam fast pünktlich, die verspätung der fernen kusine verstimmte.

4. August 2011 20:38










Sylvia Geist

Nachtausgabe

Verschüttete Milch

Die Piazza liegt parat, doch die Audienz,
vom Amt verkauft als Tête-à-tête und
eben überstanden, ging verloren im Blackout.
Die Tasche fehlt, ihr dünner Griff der Faust.

Zurückverdammt, und schnell, bevor
die Prozession beginnt, ein Purpuralp aus
Samt, Verhängen, schwindelnden Emporen,
die apostolischen Portiers perfekt versteckt
in monochrom gesponnenen Passionen –

Die Tasche ist noch da
und heil unter dem leeren Stuhl,
die Heiligkeit pausiert. Das Kinderding:
Sein weißes Kunststoffmäulchen
gähnt, sein Babyrachen, harmlos, zahnlos,

loht, dass ein Myriadenwurf von Mäusen flieht,
entrinnt übern verrohten Teppich, rennende Kohorte
und geronnen, Tropfen, die es zur Schwelle zieht.

5. August 2011 00:49










Gerald Koll

die ferne kusine in urnäsch

die verspätung der fernen kusine zum tee bei miss mandy in urnäsch …

die ferne kusine in urnäsch

beruhte allerdings auf ereignissen, die schauerlich genug waren.

5. August 2011 19:26










Gerald Koll

urnäschs ende

Schnecken mit Nachbarin

nicht lange, und schon hatten die waldschnecken die ferne kusine miss mandys in einen weichen mantel geschmiegt. als was würde sie beim nächsten regen herausschlüpfen?

„die erste weiße flagge, die, wenn man sie schwenkt, bewirkt, dass der gegner aufgibt.“ (Jan aus Lausanne über die olfaktorische wirkung von aikido-anzügen nach dem einwöchigen sesshin)

6. August 2011 20:31










Thorsten Krämer

Wetterverhältnisse 2011

Es regnet, und dann wird es schlimmer:
Der Regen findet keinen Schluss,
Fast so, als ob er regnen muss.
Es regnet, regnet einfach immer.

(für Ror Wolf)

12. August 2011 13:53










Hans Thill

Die fünfte Wand im Raum ist die Leinwand

»Anfangs malten sie nebeneinander auf dieselbe Leinwand (the pianistic painting). Manchmal malte einer über dem anderen (the totem painting); manchmal hatte einer allein ein langweiliges Bild gemalt und der andere übermalte es mit einem lustigen Bild (the biksemad-and-egg painting). Manchmal hatte einer allein ein lustiges Bild gemalt und der andere übermalte es mit einem lustigen Bild (the stratificated painting). Sie behaupten, niemals habe einer ein langweiliges Bild auf das langweilige Bild des anderen gemalt (deshalb bleibt dieses System ohne Namen). Aber die Lösung aller Lösungen ist die simultane Mischung ganz ohne Verortung im Raum (the jam-session-painting).«
Christian Dotremont über die Malexperimente von Pierre Alechinsky und Walasse Ting im Jahr 1963
in: Christian Dotremont, Peintures à quatre mains II, in: »L´Arbre et L´Arme«, Galilée, Paris 2007, Seite 88-89

18. August 2011 10:59










Mirko Bonné

Paar mit Uhu

Wir besprachen uns
bei Rotwein und blauem Öl.
Es ging um Worte. Wir blieben
dabei und kamen nicht
darüber hinaus.
Blaues Paar,

jeder für sich
sucht den anderen
am eigenen Bildrand.
Beide wollen den Kreis,
der ausgeht von einem,
einschließt Betrachter,
mündet in das Auge
dessen, der liebt.

Als ich hinausging,
hast du hinter dem Fenster
ein paar feurige Augen gemalt,
und hier, auf dem Feldweg,
keinen Steinwurf entfernt,
rief der Uhu, weise
meinte er uns.

*

18. August 2011 20:32










Gerald Koll

Schnepfenjägerpaar mit Uhu

In der Nähe rief ein Uhu, und Laska schreckte auf, machte vorsichtig ein paar Schritte und lauschte, den Kopf zur Seite geneigt. Jenseits des Flüsschens war ein Kuckuck zu hören. Er rief zweimal auf die gewohnte Weise kuckuck, dann wurde er heiser, beeilte und verhaspelte sich.
„So was! Schon ein Kuckuck!“ sagte Stepan Arkadjitsch und trat hinterm Gebüsch vor.
„Ja, ich höre.“ Lewin störte ungern die Waldesstille mit seiner ihm selbst unangenehmen Stimme. „Bald ist es soweit.“
Stepan Arkadjitschs Gestalt verschwand wieder hinterm Gebüsch, und Lewin sah nur noch das helle Flämmchen eines Zündholzes, gleich danach die rote Glut einer Papirossa und blauen Rauch.
Tschik! Tschik! klickten die Flintenhähne, die Stepan Arkadjitsch spannte.
„Was schreit denn da?“ Oblonskis Frage lenkte Lewins Aufmerksamkeit auf ein langgezogenes Klagen, als ob mit dünner Stimme ein mutwilliges Fohlen wieherte.
„Das kennst du nicht? Ein Rammler. Doch lass das Reden! Hörst du, sie kommen!“ Lewin schrie es beinahe und spannte die Hähne.

Zwei befreundete Männer auf der Jagd nach der entscheidenden Aussage bzw. Auskunft über das Befinden Kittys, jener Schwägerin Stepan Arkadjitschs (= Oblonski), der Lewin wenige Monate zuvor vergeblich seinen Heiratswunsch angetragen hat.

(Zitiert aus: Lew Tolstoi: Anna Karenina. Teil 2, Kapitel XV. In der Übersetzung von Rosemarie Tietze.)

21. August 2011 18:06










Andreas Louis Seyerlein

~

2.08 – Nach heftigem Gewitterregen habe ich einen Kandinsky entdeckt im Park, eine nasse Raupe von so wunderbarer Zeichnung, dass ich sie in eine Streichholzschachtel setzte und mit nach Hause genommen habe. Sie lungert jetzt auf meinem Schreibtisch herum. Der Eindruck, dass sie nicht sehr begeistert ist, sobald ich mich mit einem Finger oder meinen Augen nähere, vielleicht wegen meines Anblicks oder weil es eigentlich dunkel sein müsste um diese Zeit, da doch Nacht geworden ist. Drohende Haltung, das heißt, gesenkter Kopf, Fühler derart zu mir hin ausgerichtet, als wären sie Hörner eines Stieres. Ihrem Rücken entkommen vier Quasten von gelber Farbe senkrecht einer ledernen Haut, die dunkel ist und zart liniert, wie die Handflächen eines Berggorillas. Zarteste Federn, sie blühen feuerfarben an den Flanken des Tieres, aber grüne, sehr kurze Beine, acht links, acht rechts. Manchmal fällt die Kandinskyraupe um. Sie liegt dann recht flach auf der Seite zur Schneckenzeichnung geworden. Ob ich sie mit etwas Banane an mich gewöhnen könnte? Oder mit Cole Porter vielleicht? Zwei Stunden Cole Porter, das sollte genügen. – stop

> particles

26. August 2011 00:46










Sylvia Geist

Am Rice Lake

Es wird nicht Abend in der Gegend,
den ganzen Tag lang tritt der aus

den Zedern auf den Asphaltpfad
in Lachen. Kojoten, wild auf Abfall,

Katzenjammer, Zank, die uns entgegen
waten. Langsam wie ein alter Wunsch

am Boden zieht der sommertrübe Schnee.
Ich will nicht wissen, wo ich wäre – komm

aus den Wipfeln auf die Lichtung
schwimmen. Nichts hat sich umgedreht,

die Dinge hängen an den Angeln
der zwei, drei Leute auf dem Steg,

die fernen Stimmen arbeiten an einer
Dankbarkeit, die lang nicht weit genug

und übers Wasser reicht. Ich werde nicht
auf seinen Rücken starren müssen.

29. August 2011 18:54










Mirko Bonné

Libellenbrief

Fahrige Fremde, die auftaucht
im Dunst als die Verkörperung
des Dunsts, hat sie, wie ich,
die Jugend versäumt? Lernte
kein Griechisch, aß nicht täglich
einen Apfel, sondern schwirrte.

Der Bewegungen der Pappeln
folgen ihre Manöver. Augen –
Augen – Tauperlen – Tau.
Sieht sie her, wird sie zackig,
Garten ihr Schwebflug, eckig,
o Briefkasten Sonnenfleck.

*

31. August 2011 15:21