Gerald Koll
Ich erhebe mich, stütze meinen Körper auf sich selbst und trete ans Fenster, höher als die umliegenden Dächer, und unter mir die Stadt, die in der langsam beginnenden Stille schlafen geht. Der große, weißweiße Mond erhellt traurig das vielfältig terrassierte Häusermeer. Es ist, als beleuchte sein Licht eisig das Geheimnis der Welt. Es scheint alles zu zeigen: und alles ist Schatten, hie und da ein Einsprengsel von Licht, falsche, uneben absurde Zwischenräume, Ungereimtheiten des Sichtbaren. Nicht ein Windhauch, und das Geheimnis scheint größer.
(Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe, Eintrag 149, 3. März 1931)
1. März 2012 11:29
Hans Thill
ein gypsy mit der Eierfrucht
in der Hand. Sich von
weichen Sachen nähren.
Einen Schleier tragen
wenn es stinkt, einen
Turban, wenn es blutet.
Wystarczy, es reicht.
Kifaya, es reicht. Maidan
al Tahrir und alle gehen
wie der Pharao aus Gips,
aus Fleisch und Bein,
mit dem Stein in der
Hand die Hölle
löschen (‚Attar)
4. März 2012 10:16
Gerald Koll
Alles sträubt sich gegen die Unzumutbarkeit der seriellen Monotonie. Verschone dich, verschone später die, die keine Schuld trugen, dass du dich rädertest auf deinem Kissen und dir gefielst im blödesten Martyrium, um das dich niemand bat, das niemandem nützt und keine Idee besitzt als ideenloses Sitzen. Niemand will das, niemand zwingt und ermutigt dich dazu, weder gibt es Botschaft, Prüfung noch Beweis.
Eine Revolution sei hier im Gang, sagt der namenlose Meister.
Unter mir in meinem Rücken rischelt es. Es gibt Mäuse, weiß ich, nachts schon trippelte es im Gebälk. Es knirscht, als nage die Maus Sand zu Staub. Nie entfernt sie sich, sie bleibt bei mir. Nicke ich ein, kratzt sie. Lausche ich, hört sie auf. Döse ich, raschelt sie. Die Geräusche produziert mein Sitzkissen, dessen Füllung sich verschiebt, wenn mein Körper einsackt. Daran gibt es jetzt, am Ende der siebzehnten Einheit, keinen Zweifel.
4. März 2012 15:26
Gerald Koll
Wir nehmen einen Tee.
Auf dem Tagesplan wirkt der Eintrag „Tee“ wie ein Ausflug in zivile Dekadenz mit abgespreiztem Finger. In der Wirklichkeit des Sesshin handelt es sich um eine disziplinarische Maßnahme.
Nahezu alle Zeit der Teezeremonie gehört dem zeremoniellen Davor und Danach, dem andachtsvollen Warten ohne Erwartung, der bedachtsamen Empfängnis, der verbeugenden Empfangsbestätigung, der Weitergabe der Gerätschaft, dem wachen Lauern auf das Signal gemeinsamer Verkostung.
Verschwindend wenig Zeit benötigt der Verzehr eines abgezählten münzgroßen Keksgebäcks. Geschwind geschluckt ist die Menge Flüssigkeit einer Puppenstubenschale. In dezenter Eile müht sich einjeder, andere Teilnehmer nicht warten zu lassen. Durstige erhalten eine zweite Pipette.
Andachtsvoller Dank kleidet sich in Sutra, Bekenntnis und Versprechen, die nährende Spende zu verwenden im Dienst an der Menschheit. Die zähe Zeremonie endet, das Sitzen nimmt seinen Gang.
Wir nahmen Tee zu uns.
10. März 2012 12:10
Gerald Koll
Für wie blöde halte der Schüler ihn, donnert der namenlose Mönch. Halte der Schüler den namenlosen Mönch für jemanden, der Antworten erteile, ohne gefragt zu werden? Die Glocke sei dreimal geschlagen und damit das verabredete Zeichen gegeben, dass der Schüler berechtigt sei, seine Frage vorzubringen, mit gefalteten Händen den Pfad zur Klause hinaufzusteigen, sich der Schuhe zu entledigen, die Tür beiseite zu schieben, die Schwelle zu übertreten und auf dem Boden Platz zu nehmen, um die Frage zu stellen. Es hieße, das Zeichen der Glocke zu missachten, nun, beim neuerlichen doku-san, da der Schüler mit seiner Frage bis zur Schwelle vorgedrungen sei, auf dieser Schwelle schweigend und stehend zu verharren und auf weitere Zeichen oder Einladungen des im Zazen ruhenden Meisters zu warten.
Der Leitfaden für das tägliche Handeln, sagt der namenlose Mönch, der den Schüler darin unterweist, die Ausbildung basiere nicht auf dem Disput, sondern der Unterweisung, sei die spontane Liebesreaktion auf die jeweilige Situation, und wir sprechen über Bomben.
18. März 2012 09:59
Sylvia Geist
Vielleicht in dem Schatten, der am langen Vormittag
eines Kindes in den Hof fällt. Auf das Handtuch
von Rasenstück, sonntags von einem Nachbarn,
zerbrechlich vor Leben und Haltung, gestutzt
mit einer Schere für Papier. Wo es die Halme
streicht, oder zählt, als wäre da etwas verloren
gegangen, das daran erinnerte, was es einmal wird
suchen müssen. Hinter halbgeschlossenem Fenster
Lid Gurren, Gespräch von Löffeln, später anberaumt
im Birkengefieder die heimlichen Gebäude. Es zählt,
als wärs schon verloren und wüsste, es wird vermisst
bleiben, mit dem Gesicht des Nachbarn, dem vielleicht
jedes ähnlich sieht, das ich wiedererkenne, entfallen
im Schatten, verklappt durch die Luke über dem Hof.
18. März 2012 15:57
Mirko Bonné
Es ist bloß ein Augenblick,
aber was für einer? Kastanien
am Ufer entlang, Frachtkähne
und die Brücke über die Seine
bei Bougival. Sommermoment,
und einer am Wegrand malt.
Es ist Sisley. Ein Stück flussab,
bei Port-Marly, arbeitet Monet.
Sisley mag die Kronenschatten,
vielleicht weil sie ihn verwirren.
Da, die Vögel sollte er malen,
aber sie sind ihm zu schnell.
*
21. März 2012 11:22
Gerald Koll
http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/regener_interview100.html
(Sven Regener im Gespräch mit Zündfunk-Autor Erich Renz)
22. März 2012 11:21
Andreas Louis Seyerlein
2.05 Hörte im Bildschirmgespräch Thomas Bernhard wieder sagen: Alles ist immer wirklich, es gibt nichts Erfundenes. Froh bin ich über diesen Satz. Nach Selbstbeobachtung scheint in meiner erzählenden Welt ein Zeitannäherungswerk zu existieren, das nach Entdeckung zunächst arbeiten muss im Kopf. Ich habe gestern zum Beispiel den Versuch eines Mannes notiert, eine Biene von Stein zu fabrizieren, ein soziales Wesen, das in der Lage sein sollte, sich in die Luft zu erheben. Diese Vorstellung war mir zunächst durchaus fremd gewesen, mein eigener Gedanke. Als ich dann nach zwei Stunden von einem Spaziergang an den Schreibtisch zurückkehrte, war mir der Mann und sein Unternehmen so vertraut geworden, als würde er in einer benachbarten Wohnung leben, ich würde ihn besucht haben und über die Schulter geschaut wie er etwas Felsspat mit einem Meißelchen behutsam fächert, dass es als Flügelteilchen bald einmal durch die Luft segeln könnte. Es scheint vielleicht so zu sein, dass sich meine Wirklichkeit zunächst mittels einer Wortzunge vorsichtig in unbekannte Räume tastet. – stop 4 Uhr und 12 Minuten in Homs, Syria. stop
> particles
26. März 2012 05:32
Hendrik Rost
Der Tag beginnt mit Sonnenuntergang
Die Ameisen führen Krieg untereinander
Schöne Schilderungen der Natur werden ausstoßen
von Leuten, die es besser wissen müssten
Müde liegen Gewerbeparks um die Stadt
Ich liebe jetzt den Lärm der Nachbarn
Sie leben noch und fürchten Ameisen
Die Bücher liegen uns schwer im Magen
Die Kinder wollen getröstet werden
Irgendwann ist wieder Disko
Wir müssen nicht weitermachen
Wir müssen in uns gehen wie Mikroben
27. März 2012 08:43
Gerald Koll
1 Im samadhi seien sie doch nie gewesen, keiner 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3
4 5 nicht der Beuys und auch nicht der Picasso 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8
9 10 überhaupt nicht, keiner, niemals im samadhi, aber 1 2 3 4 5 6 7 8 9
10 1 2 Kunst ! wollen sie gemacht haben, Kunst ! wie denn? 3 4 5 6 7 8 9
10 1 2 3 schimpft ja zetert der namenlose Mönch, der 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3
4 5 6 7 8 wie gesagt, dreißig Jahre lang im japanischen Kloster diente, und 9
10 1 2 3 4 in den Dielen versinkt der Kopf eines Esels im Morast. 5 6 7 8 9
10 1 2 3 4 5 Eine Buchstabenblase steigt lächelfroh: Die 6 7 8 9 10 1 2 3 4
5 6 7 8 9 10 1 Wehrlosigkeit der Liebe bewährt sich, wenn sie nicht 10 1 2
3 4 5 6 7 8 9 10 entwaffnend ist 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
27. März 2012 10:26