Hans Thill

Crazy Horses (für Hanns Grössel) 14

das uns entlockte Schreien ist ein Wiehern,

oft haben sie nicht mal einen Namen.
So gehen sie in jede Richtung, die ihnen
nahrhaft erscheint. Ich habe das Wasser noch
im einen Ohr, im anderen ein Klavier auf
Hufen. Gieß mir Henna auf mein Haar,
sag mir Befehle, die ich
nicht verstehe

Le cri qu’il nous arrache est un hennissement.

9. November 2012 14:01










Andreas Louis Seyerlein

6.45 – In Tageslicht aus nächster Nähe beobachtet, handelt es sich bei jener Maschine, die gestern Abend bei leichtem Schneefall noch auf der 5th Avenue südwärts durch die Luft reiste, um eine Biene, die auch bei Nacht fliegen kann, weil ihre Augen so künstlich sind wie ihr gesamter Flugapparat, ihre Wirbelsäule, ihre Beine, ihre Fühler, alles das ist von äußerst leichtem Metall gewirkt, 528 Schräubchen halten das komplizierte Wesen zusammen, das niemals größer sein wird als ein wirkliches, ein aus organischen Einzelteilen hergestelltes Insekt. Genau genommen ist diese Biene ein sehr kleiner Hubschrauber, wendig, leise, ein Helikopter, der sich im Kostüm einer Biene befindet, ein spähendes Subjekt, eine Drohne, die man vielleicht einmal bewaffnen könnte, um sie einzusetzen für gute oder weniger gute Zwecke. Gestern Abend beobachtete ich nun mit höchstem Interesse wie man der kleinen Maschine kurz vor ihrem Start ein weiteres Gewand überstreifte, das an einen hellen Pelz erinnerte, so dass ich lachen musste, weil ich für einen Moment glaubte, man habe die äußere Beschaffenheit einer Biene mit der Idee eines Eisbären gekreuzt. Kaum aus dem Fenster des Erfinders geflogen, war die weißgefiederte Biene schon im dichten Schneetreiben verschwunden. Nun konnten wir glücklich durch die Augen der Unsichtbaren die Winterwelt betrachten, wir sahen uns selbst in einer Verfolgung und wir begegneten Menschen, riesenhaften Gesichtern, die feucht waren, Regenschirmen, dem Licht der Fußgängerampeln und Dampfwolken, die aus dem Boden pafften, als wären sie der Atem unsichtbarer, unter dem Asphalt verborgener Riesen. stop. Dämmerung. stop Es ist Freitag. – Guten Morgen! – stop

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9. November 2012 21:32










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (44)

„Warum glaubt ihr mir nicht?“
schimpft der namenlose Mönch.
„Warum glaubt ihr mir nicht?“

12. November 2012 01:15










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (45)

Was geschehen war? Dies war geschehen:

Den namenlosen Mönch hatte Regen bewogen, das Samu ins Innere zu verlegen. Er äußerte den Beschluss bester Laune. Eben noch war der namenlose Mönch in seinem drolligen Arbeitsanzug mit Jakobinermütze eine Zier jedes Gartens. Eben noch rechnete er nicht mit Barrikaden, Partisanen, Heckenschützen. Eben hatte Frau {Vorname} die Waffen ruhen lassen.

Dann schnitt die Schere pfeifend durch die Welt.

Jeder sei ja für sich selbst verantwortlich, sagte Frau {Vorname}. Sie war willens, trotz Nässe draußen Sträucher zu beschneiden. Hinter dieser Anfechtung liegen Jahrzehnte des Lebens und einundfünfzig Phasen in konzentriertem Zazen. Kaum erklärbar ist daher, wie sich Frau {Vorname} zur Zündung des Sprengsatzes in der Seifenblase des Rituals hat hinreißen lassen.

Frau {Vorname} muss wahnsinnig geworden sein.

12. November 2012 01:27










Markus Stegmann

Die und die

Die und die, die immer so sind, im hellen Seitenlicht, weisst du, Regenlicht, das seitlich erhellte sich allmählich im hinteren Gelände Strassenschnee reflektierende Rückstände, Glasscheiben der Fassaden, Lastwagensonnen im gewendeten Oktober um die Oberfläche gekrempelte Haut.

12. November 2012 22:57










Sylvia Geist

Inside Passage III

Geht Wind, reicht das
für den Anschein von Strand.
Wir halten uns

an den Stillstand unter Einfluss
von Benzin und Fotografie,
werden wahlweise

verwandt und relativ,
können hinüber mit etwas anderem
Verstand, mit einer Vergangenheit

in neuem Licht, einem Gran Wal.
Eine Hügelkette gibt nach, reißt ab
wie ein Gespräch über Gravitation,

Cumuli drängen zu Tal, hochbeinige
Fluchttiere aus Chlorophyll.
Wir können auch lieben.

14. November 2012 11:40










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (46)

Heute Morgen hatte er, sagte der namenlose Mönch, den Eindruck, wir seien gesegelt …

18. November 2012 15:45










Hans Thill

Crazy Horses (für Hanns Grössel) 15

und nur als Stuten werden wir begehrt.

wenn ich nur für einen Zentimeter Zeit
(nackte Sekunden) das Grasland hätte
aus den Jahren vor Erfindung des Jägerzauns,
als die Wiese aber blühte wie immer schon.
Wenn. Ich übe wiehern und wie man das
Begehren zerkleinert. Schreiben Sie hier den
Betrag in Worten. Der Kavalier genießt,
ein Anderer müsste schuften als Kanake
längs oder quer

Et leur désir en nous n’étreint que la cavale.

23. November 2012 12:23










Andreas Louis Seyerlein

22.01 – In dem Moment, da ich beim Augenoptiker meinen Wunsch nach einer Lesebrille vorgetragen hatte, war ich etwas verlegen gewesen, als ob ich plötzlich uralt geworden sei und etwas an Bedeutung verloren hätte. Ich sagte nun zu dem Mann, der hinter dem Tresen stand: Hören Sie, ich brauche eigentlich noch keine Brille. Ich sehe, glaube ich, noch sehr gut nah und fern. Aber ich möchte gerne dieses Buch hier lesen. Ich legte John Dos Passos’ Roman Manhattan Transfer auf den Tresen ab, genauer gesagt, Dos Passos’ Roman in der deutschen Taschenbuchausgabe des Rowohltverlages, ein Buch, dem sofort anzusehen ist, dass man Papier sparen wollte, eine ehrenwerte Handlung, um Urwälder vor der Vernichtung zu bewahren, das ist denkbar. Man kann sich das so vorstellen: Die Zeichen, die im Körper des Buches zu finden sind, sind äußerst klein geraten, alle Zeilen liegen dicht zueinander und spannen sich tatsächlich fast vollständig vom linken bis zum rechten Rand der Seite. Es ist ein dicht bedrucktes Buch, eine beinahe dunkle Erscheinung. Können Sie mir eventuell mit einer passenden Brille weiterhelfen, fragte ich den Optiker vorsichtig. Wissen Sie, wie ich bereits erwähnte, ich brauche eigentlich noch keine Brille! Der Optiker nahm also das Buch in die Hand, wog es hin und her, öffnete es, warf einen kurzen Blick auf die erste Seite des Romans und lächelte, ich sollte ihm folgen. Im Magazin, – es war ein sehr großes, erhebliches, ja ein bedeutendes Warenlager -, führte er mich Schubladenwände entlang, die bis unter die Decke reichten, es roch sehr gut, etwas nach Alkohol und etwas nach feinen Motorölen. Nach einer Weile blieb er stehen und deutete auf eine der Schubladen. Dort stand, gleichwohl in sehr kleiner Schrift geschrieben: Dos Passos / Manhattan Transfer. Wie er nun die Schublade öffnete, lagen dicht an dicht einige sehr schöne Lesebrillen in verschiedenen Farben und Größen und Formen. Über Dos Passos‘ Brillenschublade war ein Fach mit der Beschriftung: Samuel Beckett / Gesammelte Romane zu erkennen. Gleich rechts davon lagerten Ulysses‘ Brillen. – stop

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24. November 2012 21:59










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (47)

… noch zwei Tage mehr, und wir …

25. November 2012 15:17










Sylvia Geist

Verschwunden am Eintrachtweg

überschreibt Christine Kappe einen Absatz in einem Text Über das Verschwinden: „Auch die Menschen, die hier wohnen, verschwinden. Besonders augenfällig im Eintrachtweg, ungerade Seite, wo die Namen so stokelig aus dem Russischen transkribiert sind, dass sie nie wieder ins Kyrillische zurückfinden. Hier ist keiner auf der Straße. Ein einziges Mal bin ich, bei Nummer 9, einer Frau begegnet, die kam neben mir aus der Hecke und hatte nur einen Schuh an. Wie ein Zitat.“
Die Rede ist von einer Straße in Hannover, einer kurzen, wie ich annehme. Sicher bin ich nicht, ich wusste nicht einmal, dass es hier einen Eintrachtweg gibt, geschweige denn, dass es sich dabei um einen quasi-magischen, etwas unheimlichen Standort (oder -punkt) handelt, an dem verschwunden wird.
Dabei ist das eigentlich nicht so überraschend – deutet nicht schon der Name darauf hin? Verschwinden die Dinge in Eintracht nicht besonders leicht, dort, wo sie einander durch die Flüchtigkeit des Blicks zum Verwechseln ähnlich werden, bis sie in Eintracht verschwimmen, oder aber in Eintracht mit meinen Sehgewohnheiten nur mehr dahindämmern? Christine Kappes Sprache kündigt Eintracht immer wieder auf, sukzessiv und subversiv biegt sie vom Gewohnten, Erwarteten ab und trifft die Dinge in den so alltäglichen wie merkwürdigen Allianzen an, in denen sie wieder sichtbar werden: „Wenn ich auch nur 10 Minuten später dort bin, ist der Geräuschpegel anders …, laufen weniger Kaninchen vor der Einfahrt von BASF weg – der Stadtteil (…) stellt sich quer, zerreißt wie eine billige Kopie …“

Ich freue mich, liebe Christine, künftig auch hier von dir zu lesen. Sei herzlich willkommen im Goldenen Fisch!

26. November 2012 15:25










Christine Kappe

Momente / Memos I

MHH. Im Zimmer wurde es immer dunkler, niemand von uns wollte das Licht anmachen (es war zu hell), wir saßen einfach nur da, waren einfach nur da. Ben und ich warteten auf meine Entlassung. Ingrid hatten sie gleich wieder zugenäht, als sie gesehen hatte, dass alle Organe befallen waren. Mir war schleierhaft, wie sie das aushielt, was sie dachte. Ihr Sohn war ruhig, schön, traurig, im langen schwarzen Mantel und einem Alter, von dem wir nur träumen konnten. Ihr Mann fasste es zusammen: „Du bist halt was besonderes.“ Von unten drangen den ganzen Nachmittag die Geräusche der Gärtner durchs gekippte Fenster. Es gab viel zu ordnen für sie. Ich musste an meinen Bruder denken. Wenn er nur halb so lange wie ich hier warten müsste, hätte er einen Anwalt eingeschaltet.

28. November 2012 22:29