Andreas Louis Seyerlein

MELDUNG. Drei Kakteen [ Gattung – echinocereus coccineus xdl — 77 ] haben fünfzehn Uhr zweiundzwanzig MEZ zwölf Pfund filigranes Stachelhorn auf flüchtende Laboranten geschossen. [ MPI für Biotechnologie, 5th floor : Labor IIId-7 : Level 4 ] – stop

> particles

2. März 2013 07:55










Hans Thill

Useful Knowledge

Stromzähler
Er misst den elektrischen Fluß nach seiner Heftigkeit (Intensität) wie ein Taxameter die Schritte und Stunden zerkleinert. Der Stromzähler hat keinen Namen und ist an den rot gerahmten Stellen hinterm Komma zu erkennen, die ihn leserlich machen.

2. März 2013 13:37










Mirko Bonné

Morgen

Am Morgen war die Schneelandschaft zurück,
nicht irgendwie und irgendeine, sondern die
am Ende des Romans und damit auch
das ganze Buch mit seinen Menschen
und ihrem Weiß des neuerlichen Winters.
Noch immer dieser Frost Unwirklichkeit
zwischen den Zeilen der Empfindungen
und den Gedanken von Gespenstern.

*

4. März 2013 10:37










Andreas H. Drescher

Zitronenwein

Die Spirale des Zitronen
Falters um mich her dann
Spielt er altes Blatt im Wein

6. März 2013 10:57










Hans Thill

Useful knowledge

Handy
Hans Test fällt auf, daß das Handy durch eine Schnittstelle aufgeladen wird, durch die es auch seine Daten abgibt. Für diese Dinger sind Mund und Anus eins. Bei digitalen Geräten ist ohnehin alles Finger.

8. März 2013 23:03










Christine Kappe

im März

die Zeit kriecht mir kalt in die Ärmel
eine Art Tod
irgendein noch zu bestehendes Abenteuer

eine Frau zerteilt Pfützen mit dem Kinderwagen
das Kind – von der Sonne geblendet – schreit schrill
ich zweifele an seiner Echtheit

Sonne erhellt nicht immer, immer aber gibt es zwei Bilder
eins ist wahr, das andere hell

10. März 2013 11:10










Sylvia Geist

Der Wald ist geschlossen

(nach einem Bild von Max Ernst)

Und wenn ich um Nebel bitte?
Ein Riss, und der Giebel scheint
sich zu biegen, schon unterm Haar
der Berenike, glaube ich,
* als fiele
auch Licht je schwerer je weiter –

    – ? wieso „-„? Etwas fehlt hier, der Wald, der ja da ist, sobald man begreift, was man sieht,
    also beinahe gleich, und auf / in den das Licht ein/fällt, aus der rechten Bildecke …
    (Beim Versuch, es halblang zu machen, droht das Gedicht länger zu werden.)**

Das Mehl jedenfalls ist froh
um die Zutaten der Hände,
ich nehme die richtige Dosis
Honig und glaube daran,

dass es gut ist, dass der löchrige Mantel
Regen kein Wunder Rätsel be entdeckt, keine Blöße,
die der Himmel in dieser Ecke
einem noch geben könnte, und ja,

es lebt sich bescheiden im Mandelkern
eines steten, strahlenden Zusammenbruchs.
Aber es gibt komische Vögel hier, die mich umnachten,***
oder vielleicht sind es die Schlafbäume

der Schneeeulen da, die hin und
wieder zusammenrücken. Dann glaube ich,
der Wald ist geschlossen, und niemand geht
mehr hinein, der es lichten kann. – Und
wenn ich nun die Milch verschütte?

* Änderung vom 17.03.
** Anm. vom 20.03.
*** Änderung vom 05.04.

    Viele Grüße, liebe Christine – wir sehen uns!
10. März 2013 13:06










Hans Thill

Useful knowledge

Kleine Flasche
Auf italienisch eine große Niederlage. Hans Test hat das Messen eingestellt. Die Mengen beunruhigen ihn nicht mehr. Aber die Tönung einer Flüssigkeit wird deutlicher, je kleiner die Flasche ist. So wie das Taxameter die Zeit mißt. So wie Meister Roubaud aus Hochachtung neben dem Urmeter liegt.

12. März 2013 11:38










Christine Kappe

Stöcken 1

Einer der ersten sonnigen Tage in diesem Jahr. Wir wollen ein Picknick machen, doch ein Junge bedroht uns mit einem überdimensionalen Maschinengewehr; es ist bunt und kann sprechen. Vor einem Jahr noch hätte ich nichts gesagt.

Kurz danach rät mir eine Frau in der Bahn, die Stirn nicht in Falten zu ziehen. Ich würde ja älter aussehen als ich sei. Sie hat eine Kerbe in der Lippe, die beim Sprechen zu bluten anfängt. Ich stelle mir vor, wie weh das tut; sie aber lächelt auch noch.

19. März 2013 10:51










Andreas Louis Seyerlein

6.55 – Ich hörte eine Geschichte, die von einer Frau und einem Haus erzählt, das sich in einer alten nordgriechischen Stadt befindet. Es ist ein stattliches, steinernes Haus, die Böden des Hauses sind von Holz wie die Treppen und Türen. Ein hochbetagter Olivenbaum steht unweit des Hauses. Manchmal sitzen dort Sperlinge und pfeifen. Im Winter kann man Wölfe hören, wenn man die Fenster des Hauses öffnet. Hin und wieder kommen Schlangen zu Besuch und Eidechsen und Ameisen und Schildkröten, ja, es gibt sehr viele Schildkröten im Garten des Hauses, aber nicht im Winter, in keinem Winter, soweit Menschen zurückdenken können, hat irgendjemand Schildkröten in der Nähe des Hauses, im Garten oder in der Stadt gesehen. In dem steinernen Haus also wohnt eine Frau. Sie wohnt seit wenigen Wochen allein, weil ihre Mutter gestorben ist. Über zehn Jahre lag die uralte Mutter in ihrem Bett und wurde von ihrer Tochter, die gleichwohl eine ältere Frau ist, gepflegt. Das ist so üblich in Griechenland, dass sich die jüngeren Menschen um die älteren Menschen kümmern, auch wenn sie selbst schon alte Menschen geworden sind. Als nun die Mutter der alten Frau starb, war es plötzlich sehr still im Haus. Es war so still, dass die Frau glaubte, ihre Mutter noch zu hören. Nachts vernahm sie den Wind, aber der Wind war draußen gewesen hinter den Fenstern, und sie hörte das Dach, wie es flüsterte. Manchmal schloss die alte Frau ihre Augen in der Dunkelheit und schlief ein. Es war immer dasselbe, sie hörte im Schlaf die Stimme ihrer Mutter, wie sie nach ihr rief, und ihren Atmen und wie ein Glas zu Boden stürzte und wie die Bettdecke gewendet wurde. Davon wurde sie immerzu wach, und sie hörte scharrende Geräusche von der Treppe her, und wieder den Wind. Das ging Wochen so, kaum eine Nacht konnte die alte Frau schlafen, weil sie meinte, ihre Mutter zu hören. Einmal vor wenigen Tagen, nachdem sie wieder einmal wachgeworden war, verließ die alte Frau nachts ihr Bett. Sie stieg die Treppe hinab in die Küche. Wie sie das Licht anschaltete sah sie inmitten der Küche eine sehr kleine, junge Schildkröte sitzen. Gestern erst soll Schnee gefallen sein. – stop

> particles

20. März 2013 17:30










Björn Kiehne

Die Marken

Ich nehme den Bus durch Kiefernwälder
in halbschlafende Dörfer, überlasse mich
dem Flüstern leerer Häuser –
Geschichten aus dem Grenzland.

Blicke aus blinden Fenstern,
ein kalter Hauch im Nacken
wie vom Atem alter Männer.

In den Wäldern sollen Wölfe wohnen,
ich kann ihren Hunger spüren, den sie,
pendelnden Schrittes, entlang der Kanäle tragen.

Erde unter den Schuhen beim Gang
durch brache Felder, über ihren Rand
schabt der schwere Bauch des Himmels.

Ein Strommast reißt ihn auf,
von den Wolkenrändern
dringt der Ruf meiner
ungeborenen Kinder:
Geh weiter, rasch!
Von hier durch
die Marken
nach Haus.

27. März 2013 15:50










Hans Thill

Useful Knowledge

Große Flasche
Etwas für Penner und Leute, die sich am Wind wärmen müssen. Es gibt auch Sprachen für große wie für kleine Flaschen. Die Engländer benötigen viel Flüssigkeit, um die Süße hinunterzuspülen, die ihre Sprache im Mund zurückläßt. Die Franzosen möchten ihre Worte immer auf der Zunge behalten. Schwer zu sagen, wer mutiger ist.

28. März 2013 12:33










Mirko Bonné

Parkplatzkönig

Nicht mal ein dürrer Gaul zieht so ein Fuhrwerk,
Wie ihr es „parkt“ auf Gloucesters lautem Grab.
Noch unter Schlamm und plattgewalztem Stein
Kann ich, der König, eure Karren riechen.
Schert euch davon, ihr York, mein England ihr,
Ihr meine Welt verpestenden Hanswurste!
Denn ich fühl mich erinnert, und was ist
Erinnerung? Doch nur ein Gaukelschmerz.

Gespalten meinen Schädel, nackt, geschändet,
Im Rücken einen schwarzen Pfeil, den Strahl
Von Einem, der sich für ein Lichtchen hielt,
Lag ich in Bosworth Field tot auf dem Schlachtfeld
Bei tausend Aufgespießten und Verrenkten.
Man band mich auf ein Pferd, Arsch in die Luft.
Der Klepper trottete mit mir nach Leicester.
Ein Kerl, ein Metzger schleifte mich durchs Tor.

Ich wurde aufgebahrt, verhöhnt, beschmiert,
Im Inn The New Wake angegafft vom Volk
Ob meiner Buckligkeit, und kam ins Grab
In einem Kloster, das ein Henry – welcher!
Der neunte, glaub ich, oder gab’s den nicht? –
Bald schleifen ließ. Mich König grub man aus,
Mir Krüppel hackte man die Füße ab
Und warf die Leiche Richard in den Soar.

Ich war die Sonne, die im Fluss versank!
Fragt meine Brüder, Knechte meiner Folter.
Fragt Clarence, Hastings, Rivers, Grey, die Kinder,
Fragt alle hinters Licht Geführten – tot!
Verbrannt von Richards Sonne wie er selbst.
Hier unterm Stein – „Behindertenparkplatz“ –
Als angeschwemmter Menschenrest verscharrt,
Ist seit fünfhundert Jahren Mitternacht.

Ich war ein Mensch, war ich es nicht? Ich liebte,
Wenn auch nur mich, und war vor Zweifeln krank,
Ob Mister Shakespeares klügstes Ungeheuer
Wohl wirklich etwas außer Schmerzen fühlt.
Mag sein, ich bin bloß noch ein Parkplatzkönig.
Wer weiß, ob ihr noch wirklich Menschen seid.
Vielleicht seid ihr vergraben in der Luft,
Wie ich’s bin im Morast. Wer gräbt uns aus?

Wo sind sie hin, mein Königreich, mein Pferd.

*

28. März 2013 21:40