Andreas Louis Seyerlein

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3.25 – Leichter, gnädiger Regen heut Nacht. Gegen zwei Uhr nehme ich Gilles Leroys Roman Zola Jackson zur Hand. Ich schaue auf die Uhr, fange an zur vollen Stunde, versuche so viele Seiten des Buches zu lesen in dieser kommenden Stunde wie möglich, ohne auf Gefühle, die Wörter erzeugen könnten, verzichten zu müssen. Um drei Uhr lege ich das Buch zur Seite. Drei Falter sind in die Wohnung vorgedrungen. Ich weiß nicht weshalb, ich meine in ihren pelzartigen Erscheinungen verkleidete Wesen erkennen zu können. Wenn ich einen Gedanken, der vielleicht seltsam ist, der Erfindung sein könnte, lange genug betrachte, vermag ich die Konsequenzen dieses Gedankens wahrzunehmen, als wäre die Erfindung tatsächlich vor mir in der Luft, und flatterte herum, und suchte an den Wänden meines Zimmers nach einem Ausgang in den Tag, der niemals existierte. – stop

2.54 – Gestern Abend erreichte mich eine E-Mail von Georges. Er schreibt: Mein lieber Louis, wie ich durch die Stadt Valletta schlenderte, bemerkte ich in der West Street nahe St. Lucia eine kleine Werkstatt. Sie war düster, aber gerade noch hell genug, dass ich ein Mädchen erkennen konnte, das an einem Tisch saß, sie schien Hausaufgaben zu machen. Ich richtete meine Kamera auf das Mädchen, um es zu fotografieren, da hob sie den Kopf und sah mich an mit einem freundlichen Blick. Ich fragte, ob ich eintrete dürfe. Es war ein wirklich düsterer Ort, das Licht der Straße erreichte gerade noch den Tisch, auf dem das Schulheft des Mädchens lag, und es war kühl, und es ging ein leichter Wind. In der Tiefe des Raumes erkannte ich einen weiteren Tisch, der von einer Glühbirne beleuchtet wurde, die ohne Schirm von der Decke baumelte. Hinter dem Tisch hockte ein dunkelhäutiger, alter Mann mit weißem Haar. Ich grüsste auch in seine Richtung. Als ich mich gerade herumdrehen wollte, um auf die Straße zurückzukehren, schaltete der Mann einen gläsernen Leuchtglobus an. Ein schönes blaues und gelbes Licht von Meeren und Wüsten strahlte in den Raum, vor dessen Wänden Regale bis zur Decke ragten. Dort warteten weitere Erdkugeln, es waren einige Hundert bestimmt. Ich bemerkte, dass der Mann auf dem Tisch Gläschen mit Farbe zu einer Reihe abgestellt hatte, er selbst hielt einen feinen Pinsel und ein Messer mit einer winzigen Klinge in der Hand. Außerdem ruhte der Globus vor dem Mann auf dem Kopf, vielleicht deshalb, weil er einmal aus seiner Fassung genommen und augenscheinlich herumgedreht worden war, der Südpol befand sich im Norden, der Nordpol im Süden der leuchtenden Kugel, an welcher der Mann mit seinen Werkzeugen arbeitete. Es war eine Arbeit für ruhige Hände. In dem Moment als ich näher gekommen war, nahmen sie gerade die Entfernung des Schriftzuges Cape Town vor, der selbst auf dem Kopf stehend in das Blau des Meeres jenseits des afrikanischen Kontinentes reichte. Aus nächster Nähe nun beobachtete ich, wie der alte Mann die Spuren, die die Radierung des Schriftzuges erzeugt hatte, mit blauer Farbe füllte. Immer wieder prüfte er indessen den Ton der Pigmente, in dem er eine Lupe in sein linkes Auge klemmte. Er schien weitgehende Erfahrung in dieser Arbeit gesammelt zu haben, seine Hände bewegten sich schnell, es roch nach Terpentin, und der Mann hauchte gegen das Meer, wohl um seine Trocknung zu beschleunigen. Dann begann er zu schreiben, er schrieb Cape Town, er schrieb die Wörter so, dass sie nun richtig herum vor unseren Augen erschienen. Ich erinnere mich an ein Motorrad, das auf der Straße vorbei knatterte. Das Mädchen hatte seine Schulhefte geschlossen und war ins Licht der Sonne getreten. Plötzlich war es verwunden. – stop
> particles

6. Juli 2014 02:25










Hans Thill

… von den Wäldern …

(aus Bordeaux) um die eigene Schrift zu lesen, schön krumm,
wie am Hauberg gewachsen, ein Gestrüpp überm weichen
klebrigen Boden. Das ist so schwarz aus der Ferne,
daß man die Gliedertiere nicht
erkennt

vor ihrem Hintergrund oder versteht
was sie sagen könnten. Von den flachen Wäldern der Hardt
haben wir noch die aufsteigende Lust am Zweifel,
der uns Mittags einnimmt im gesiebten
Licht

der Gardinen, ein schwäbisches Verstummen
mitten im Kapitel, Erinnerung an ein Buch des
Dürfens. Von den Wäldern bei Veterano haben wir noch
gehobelte Zeilen, eine Masche, fallengelassen wie ein Viererwort
und ein Ach. Von den wilden
Wäldern

8. Juli 2014 22:32










Christine Kappe

geradezu beruhigend

Wir lagen alle erschossen umher. Dann kam der Geheimdienst und wollte aufräumen. „Wer hat hier wen erschossen?“, fragten sie in drohendem Ton. Ich gab vor, das erkenne man doch an der Farbe unserer Jacken. Die ganze Zeit musste ich meinen linken Arm an der Schulter festhalten, weil er sonst heruntergefallen wär. Ich verspürte schrecklichen Durst. Mann war ich erschöpft. Hätte ich vorher gewusst, dass Totsein so anstrengend ist! Unter den Umständen war es geradezu beruhigend, dass sie uns mit Sicherheit festnehmen würden.

10. Juli 2014 12:04










Mathias Jeschke

Volucella zonaria

Was macht die Hornissenschwebfliege auf
dem weißblütigen Schmetterlingsflieder so
anziehend, als sei sie eine der einnehmend
langmähnigen Spielerfrauen, gewinnendes
Lächeln, schwarz-rot-goldener Stringbikini.

Du gehst vor der wippenden Blütendolde in
die Knie, von der sie den süßen Nektar saugt,
starrst auf das Insekt, als handele es sich um
eine edle Peepshow, wie das Tiki-taka der
Spieler bei dieser Copa do mundo no Brasil.

Jenes Samba-Strandereignis, von dem du dir
ein schickes Häppchen erhoffst, denn springt
nicht immer noch was raus, ja, kommt nicht
immer noch was rum, wenn es mal irgendwo
Gewinner gibt auf dieser überregulierten Welt.

Sogar für den, der sonst nichts zu lachen hat,
der sein letztes Hemd bereits gegeben hat,
um diese zarte Berührung zu spüren, dieses
sanfte Saugen und Ziehen auf seiner schönen,
nackten, immerhin davongekommenen Haut.

14. Juli 2014 15:06










Mathias Jeschke

Emberiza citrinella

Die Goldammer kommt übers weizenblonde
Feld, das glänzt wie das hochsommerliche
Haar einer lang Verflossenen, die plötzlich
daliegt, als sei die Zeit ein Nichts und dieser
Weg zur Arbeit ein Steg aus warmem Holz.

Sie installiert sich selbst in einem Busch als
Leuchte der Beteuerung: Wie, wie, wie hab
ich dich lieb! Und richtet ihren Strahl auf dein
Gedächtnis. Es kracht in den Synapsen und
Erloschenes kommt unverhofft zum Vorschein.

Du ziehst dir die Sandalen aus und sprichst:
Hier bin ich. Es umfängt dich dieser Sommer
mit feuchter Erde, mit Honig verheißendem
Klee und einer Idee vom zügellosen Leben,
das nackt in die sirrenden Nächte hinausläuft.

Fang dich, die Goldammerlampe erhellt dein
Gesehne, Verlangen, sie scheint dir zur Zier.
Nicht wie ein brennender Dornbusch, doch
wie in der Kapelle das ewige Licht den Raum
erfüllt als Herz und Kern und Gnadensame.

16. Juli 2014 20:28










Hendrik Rost

Kleistsche Bewerbung

I
Wenn Sie mich häuten und an die Wand
hängen, dann entweder als asiatischen
Dämon oder als Papiertiger.

II
Sie können mich als abschreckendes
Beispiel einsetzen: Erfahrung wird
überschätzt. Was wirklich zählt,
ist Trotz und Gedenken.

III
Sie werden mich in dieser Welt
nicht kriegen.

17. Juli 2014 14:29










Andreas H. Drescher

LINDERUNGSBAUM

Wer ihn zuerst gelebt hat
Den Riss der die Erde ist
Als Partikel vor der Iris

Sonnentag zwischen Gewittern
Das trinkende Schwarz als Opal

Wer das zuerst gelebt hat
Das Klaffen zwischen Ich und Ding
Atmet sich ein Blatt entgegen im

17. Juli 2014 23:04










Christine Langer

Der Kopf

Einer Krähe

Streckte sich
Für den Bruchteil
Einer Sekunde
Vor dem Abflug
Nach vorne:
Hinauslehnen
Ins Offene
Nach oben fallen
Grenzen verlassen
Die Luft hinter sich
Im schwerelosen Hinauf

Wo Erdaugen nur noch
Kreischende Wege kreuzen
Himmel sehen lernen

19. Juli 2014 15:32










Mathias Jeschke

Erythromma lindenii

Die Pokaljungfer begibt sich zur Paarung
an eines der Schilfrohre, die senkrecht aus
dem Karpfenteich ragen. Du identifizierst
dich mühelos mit dem Azur des Männchens
und findest auch den Ort sehr gut gewählt.

Die Karpfen betätigen sich währenddessen
als Unruhestifter am Grund des Teichs, vier
sind es an der Zahl und kapitale Exemplare.
Die dreihundert Kinder, denen du gestern
deine Geschichten erzählt hast, vor Augen,

denkst du an die dreihundert Menschen, die
über der Ukraine abgeschossen wurden von
einer Rakete russischer Bauart. Von der
Theodizee ganz zu schweigen, was bleibt
nach Tränen, Trauer, Ohnmacht und Tod?

Was für ein Gott, der sich Paarung und Tod
zugleich ausgedacht haben soll! Solch ein
Sommertag stimmt dich versöhnlich, jedoch
wie kommst du klar mit diesem und dem
nächsten Abschuss, Krebstod, Herzinfarkt?

21. Juli 2014 21:18










Sylvia Geist

Charl-Pierre Naudé

Der weißeste Strand

Man kann sehen, wie der Fluss
mit der Zeit den Kurs geändert hat;
die Trennlinie zwischen hier und da.

Das Ufer, an dem ich gerade stehe,
war sonst immer die andere Seite.
Und in die beiden Gegenrichtungen gestreckt,
ist alles, was du siehst, makellosester Strand.

Nicht weit von hier auf offener See
schmetterte so um Fünfzehnhundert herum
ein Sturm Bartholomeu Dias‘
kleine kristallene Karavelle,
(völlig durchschaubar bis auf den heutigen Tag),
gegen widrige Klippen.
Das Schicksal übergab das klirrende
Seewägelchen mit seiner Takelung, gewirkten,
an Kreuze genagelten Zierdeckchen,
dem Grund des Ozeans.
Das Wasser heulte wie Wölfe,
die durch die Tülle einer Teekanne geschüttet werden.

Das “Hier-Sein” und das “Da-Sein” …
Die Strandlopers* sind längst darauf gestoßen.

Und späterhin, welcher Abschnitt unserer Küste
entging diesen Teilungen?
Hier: “Nur Weiße”. Da drüben, verbannt (irgendwo): “Nicht-Weiße”.
Die allerersten Linien wurden an den Stränden gezogen:
Auf einer Seite Kolonistenbanden, zusammengeschweißt in einer Art
Club wie in einer Tüte, aus der Pulverfürze knallten;
und auf der anderen Seite die Versenkten,
die menschlichen Wachteln, die: wandernder Sand.

Scherben einer Kanne.
Komplotte der Väter. Vielgeliebte
Ferien am Strand. Der anderen.

Dabei ist doch ganz klar,
wie die Ufer die Plätze tauschten.

Jahrelang dachte ich immer wieder zurück
an einen schmerzlichen Vorfall zwischen mir und meinem Vater
– der inzwischen, wie man so sagt, “hinüber gegangen” ist -,
mit Groll, sogar Hass;
voller Selbstgerechtigkeit.
Eines schönen Morgens aber wachte ich auf
und versuchte mich ein letztes Mal
mit Sturheit vollzusaugen.
Vergeblich.
Was stattdessen übrigblieb,
war Sanftmut, die Nieselregensanftmut
ersten Begreifens.
Und das
durchtränkte alles.

Genau dann entdeckst du dich
auf der anderen Seite;
während du schon immer auf dieser Seite warst.
So wie die Toten,
geblendet
vom endlosen, nahtlosen, makellosesten Strand.

Vielleicht ist es dies,
was man Vergebung nennt.

*

* Die Bezeichnung bezieht sich auf die Khoisan, die zur Zeit der ersten Kolonisten am Kap eine der wichtigsten Bevölkerungsgruppen in Südwestafrika darstellten. (Anm. d. Ü.)

21. Juli 2014 22:26










Mathias Jeschke

Phoenicurus ochruros

Der fidele Hausrotschwanz umgibt dich mit
Geknickse und Gewippe. Sein Gesicht unter
der schwarzen Haube meinst du schon lange
zu kennen. Es wirkt vertraut wie ein alter
Brief, den du im Leben nicht mehr vergisst.

Was sagen die Zeilen, die Zeichen, das Zittern?
Es riecht nach blühenden Linden, das Laken
der Nacht, es flattert wie eine knatternde
Flagge, ein Hoheitszeichen. Doch wo ist
das Land, wo der Boden, auf dem du stehst?

Welcher Verheißung fällst du anheim und wo
sind die Erlöse der Unruh? Du wanderst
im Garten umher und wirst von dem Vogel
umlagert, als wüsste er, dass es nicht gut wär,
dich in diesem Zustand alleine zu lassen.

Lange dachtest du nicht mehr an jenen Brief
Nun kniest du vor der knarrenden Truhe und
wühlst dich durch die vergessenen Schichten.
Da fällt dir ein Auge ins Auge und eine Brust
in die Hand, du fühlst einst verheißenes Land.

23. Juli 2014 19:38










Christian Lorenz Müller

Was die Stunden wogen

Mittagsstille steht auf einer Leiter
die im Kirschbaum lehnt.
Plötzlich das Verlangen
hinauf ins Geäst zu klettern,
die schorfige Glätte der Rinde
unter den nackten Füßen;
das Verlangen, ganz oben
in einer Gabel zu sitzen
und die Kerne weit hinaus
auf den Wiesenhang zu spucken;
der Wunsch nach einem Eimer
und die wiederkehrende Lust
sich verboten weit
ins Blaue hinauszurecken,
zwei, drei Sekunden für jede Frucht.

Ich wusste, was die Stunden wogen
wenn ich zurückging zum Haus
wo in dämmernder Schattenkühle
die gefüllten Körbe standen.

28. Juli 2014 11:37










Mathias Jeschke

Zygaena lonicerae

Das Kleewidderchen fliegt von Thymian zu
Oregano, der Truppenübungsplatz liegt still
und atmet unter der Sonne. Du denkst an
deinen Mitschüler, dessen Vater explodiert
war. Wer wählt schon einen solchen Beruf?

Die Kampfmittelbeseitigung, kann denn das
Berufung sein? Du denkst an die ebenfalls
explodierenden Kaninchen im Gedicht von
Jürgen Becker und fragst dich, warum euch
eigentlich nichts passiert war damals, als ihr,

Kinder, die ihr wart, Munition gesammelt,
euch in den Gürtel gesteckt habt, ihr wart
verkleidet als Soldaten mit den abgelegten
Uniformteilen eurer soldatischen Väter,
die sich euer Spiel aus der Distanz besahen,

die aber nicht eingriffen, es betraf sie selbst,
sie waren betroffen, wussten ja selbst nicht,
wer sie waren, wenn sie die Uniformen nicht
trugen, die Uniformen waren es, die ihnen
Sicherheit gaben. Dank sei den Uniformen.

28. Juli 2014 22:14










Hans Thill

… von den Wäldern …

haben wir noch das asymmetrische Blinzeln,
wenn die Schrift bereits träge auf einem Bildschirm steht.
Es ist das wässrige Licht nachts auf den
Straßen, das aus den Fenstern
fällt

still wie das Wild um diese Zeit. Von den gespielten
Wäldern aus Fly-Over-Country haben wir noch
die gesprächigen Taxifahrer, ängstlich
in ihrem Leder. Von den
blanken

Wäldern haben wir noch das Hochwerfen
der Arme, wenn wir auf einem bezeichneten Fleck Grün stehen,
der Hubschrauber auf sich warten läßt.
Oder wenn der Ball in den
Korb

fällt, droben auf dem Königstuhl, unten in
Finisterre. Von den dichten Wäldern des Nordens
haben wir noch den Strichcode, der dir
ein Lächeln abnötigt. Jetzt liegt
Schnee

29. Juli 2014 09:48










Christine Kappe

Zustellversuch 8

Clemens 5. 4 Uhr 10. Ich lehne mein Rad an die Hauswand, ein Fenster im Erdgeschoss wird aufgerissen, hoffentlich habe ich niemanden geweckt. Schnell die Haustür aufgeschlossen und mit den Zeitungen hinein. Als ich wieder rauskomme, steht das Fenster noch offen; bestimmt lüftet bloß jemand. Doch als ich weiterschieben will, stellt sich ein Mann mit nacktem Oberkörper ans Fenster und zündet sich eine Zigarette an. Wir blicken uns kurz in die Augen, keinen Meter voneinander entfernt, keiner hat den anderen erwartet, ein ‚guten Morgen‘ scheint sinnlos, es ist noch nicht Morgen, jeder schämt sich ein bisschen, er räuspert sich, ich bringe die Zeitungen durcheinander im nächsten Haus… Mensch, es ist Sommer, und die schönen alten Häuser und das Kopfsteinpflaster, es könnte idyllisch sein, aber es ist nur das Ende einer unruhigen Nacht, die Stadt wartet schon, die Zeit- und Menschenfressende Maschine.

30. Juli 2014 10:21