Hendrik Rost
Scheinfrucht
Leise ist ein Apfel
in deiner Hand eingeschlafen,
die viele Arbeit
an der Illusion. Jetzt trägt sie Früchte.
Leise ist ein Apfel
in deiner Hand eingeschlafen,
die viele Arbeit
an der Illusion. Jetzt trägt sie Früchte.
6.55 – Die Nachrichtenagentur Associated Press veröffentlichte gestern eine bemerkenswerte Fotografie. Menschen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens darauf warten, bedient zu werden, oder Waren, die sie in Plastikbeuteln mit sich führen, bezahlen zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Laden offensichtlich um ein Lebensmittelgeschäft, das von künstlichem Licht hell ausgeleuchtet wird. Im Hintergrund, rechter Hand, sind Regale zu erkennen, in welchen sich Sekt– und Weinflaschen aneinanderreihen, gleich darunter eine Tiefkühltruhe, in der sich Speiseeis befinden könnte, und linker Hand, an der Wand hinter der Kasse, weitere Regale, Zeitschriften, Spirituosen, Schokolade, Bonbontüten. Es ist alles sehr schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkennbare kyrillische Schriftzeichen zu übersehen, in einem Vorort der Stadt Paris befinden oder irgendwo in einem kleinen Städtchen im Norden Schwedens, nahe der Stadt Rom oder im Zentrum Lissabons. Es ist Abend vermutlich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse wartet, einen Anorak trägt von hellblauer Farbe und feine dunkle Hosen. Ihre Schuhe sind nicht zu erkennen, aber die Schuhe der Männer, die gleich hinter ihr in der Reihe der Wartenden vor der Kasse stehen, es sind vier Personen vermutlich mittleren Alters. Sie tragen schwarze, geschmeidig wirkende Militärstiefel, ausserdem Uniformen von dunkelgrüner Farbe, runde Schutzhelme, über welchen sich ebenso dunkelgrüne Tarnstoffe spannen, weiterhin Westen mit allerlei Kampfwerkzeugen, der ein oder andere der Männer je eine Sturmwindbrille, Knieschützer, Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind derart vermummt, dass nur ihre Augen wahrzunehmen sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wangen, nicht ihre Münder, sie wirken kampfbereit. Einer der Männer schaut misstrauisch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genommen hat, ein Blick kurz vor Gewalttätigkeit. – Jeder Blick hinter einer Maske hervor ist ein seltsamer Blick. – Ein anderer der Männer hält seinen geöffneten Geldbeutel in der Hand. Die Männer wirken alle so, als hätten sie sich gerade von einem Kriegsgeschehen entfernt oder nur eine Pause eingelegt, ehe es weiter gehen kann jenseits dieses Bildes, welches Erstaunen oder kühle Furcht auszulösen vermag. Ich stelle mir vor, ihre Sturmgewehre lehnten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich heraustreten an die frische Luft, wenn wir den Blick zum Himmel heben, würden wir die Sterne über Simferopol erkennen, oder über Jalta, über Sudak, über einer Landstraße, die im April 1986 gut informierte Menschen der sowjetischen Nomenklatura in Bussen aus dem Norden südwärts führte, während zur gleichen Zeit Fahrzeuge der Landstreitkräfte Tausende Ahnungsloser nordwärts in die entsetzlichen Strahlungsfelder Tschernobyls transportierten. – stop / koffertext : updated – ich habe diese aufnahme mit eigenen augen gesehen.
6. September 2014 19:35von den Samstagswäldern bei
Worms haben wir noch die Rinde über den Würmern und
eine Pilzsubstanz, welche die Wörter leuchten
macht in der Matrix eines Baums, der
Schatten
sucht und dabei stirbt. Von den hellen Wäldern
haben wir noch die Pyramiden von Paris, die Nüsse, schwarz
in den Schalen und die Bienen, denen wir
seit Vorzeiten die Nahrung stehlen. Von den
roten
Porphyrwäldern haben wir noch die Schlangen,
reglos auf dem winterharten Asphalt. Von den dornigen Wäldern
haben wir noch Reste eines grünen Sirups
mit trügerischem Geschmack, als könnten
uns Haare
Haus Tanneneck. Mein Kuli ist leer, deswegen muss ich mit dem Einschreiben bis an die Haustür, hätte sonst n Kreuz gemacht, dass ich niemanden angetroffen habe und das ganze in den amerikanischen Postkasten neben dem Tor geworfen. Ausgerechnet hier, wo ich durch einen großen Vorgarten muss, mit dem Wissen um die Existenz eines bissigen Hundes! Die Adressatin nimmt das Einschreiben und macht gleich wieder die Tür zu. Ich kann gerade noch hinterherrufen, ob sie einen Kuli hat, während der Hund in den Tiefen des Hauses wild bellt. Die Frau lässt auf sich warten, hat sie’s überhaupt gehört? Oh je: die Postzustellurkunde hat sie mitgenommen… Im Türschlitz die Zeitung noch von heut früh. Im gleißenden Sonnenlicht lese ich: Die ukrainische Führung erlaubte unterdessen der Polizei im Konfliktgebiet, auch ohne Waffen zu schießen. «Dies erhöht die Sicherheit der Milz.» Ich überlege, wo die Milz sitzt, aber ich komm nicht drauf. Viel zu wenig weiß man… Da öffnet sie die Tür wieder, einen kleinen Spalt und sagt zur Entschuldigung: „Ich will nur nicht, dass der Hund wegläuft. MUSS ich unterschreiben? – Ich habe ALLES bezahlt!“
12. September 2014 12:46Während die Nacht sich aufplustert
In deinen Augen
Schwebt der Mond durchs Zimmer
Umkreist den schrillen Schrei der Wände
Die Wolken in den Laken
Balancieren auf unserer Haut
Reißen die Fenster auf
Scheiteln einen Stern
Zwei Wassertürme steigen auf,
Heißluftballons an Stahlseilen,
an der Schnur eines Kindes,
das im Maisfeld steht.
Die Welt hat kein Gewicht
bis die Schule wieder anfängt,
bis das rosa Kleid in den Dreck fällt
oder der Vater betrunken zuschlägt;
die Welt hat kein Gewicht,
sieh nur, wie der Mais
dem Himmelsblau entgegenwächst.
Ihr Scharlach-Körper
Aus den Binsen
An den Rand des Gartentischs
Ist das ein Blick?
Als ich lächle ihr Handstand ihr
Auffliegen Kaum eine eine Handbreit steht er mir vor Augen
Ihr Scharlach-Körper Schon ist er f
o( ) r( ) t( )
17. September 2014 13:40Ein Dieb fährt in seinem schwarzen Van zum Museum. Der Nacht-
wächter sagt: Sorry, geschlossen. Sie müssen morgen wiederkommen.
Der Dieb legt die Klinge seines Messers an das Ohr des Wächters.
Ich hab nicht den ganzen Abend Zeit, sagt er, ich hätt gern ‘n bisschen Kunst.
Kunst ist zum Vergnügen da, sagt der Wächter, und nicht zum Besitzen.
Sie können nicht irgendwas… – da fährt ihm das Isolierband über den Mund.
Keine Sorge, sagt der Dieb, wir meinen beide das gleiche.
Er findet die Niederländischen Meister und geht auf einen Vermeer zu:
„Briefschreibendes Mädchen“. Der Dieb weiß, was er tut.
Er ist ein Dr. phil. Er schneidet die Leinwand vom Rahmen,
angefangen an der Ecke mit den Salatschüsseln bis hinunter
zum Sonnenlichtquadrat auf dem schwarz-weiß gefliesten Boden.
Das Mädchen hört es gar nicht, so sehr ist sie in das Schreiben
ihres Briefes versunken. Sie bemerkt ihn gar nicht, bis es zu spät ist.
Da ist er schon im Bild. Und schon sitzt er am Cembalo.
Er spielt die g moll-Sonate von Domenico Scarlatti,
die einst ihr Herz zum Pochen brachte bis das Cembalo verklungen war
und es dann rasen ließ in Erwartung der wieder einsetzenden Musik.
Sie arbeitete dreihundertzwanzig Jahre lang an diesem Brief.
Jetzt ist ein Mann da, und obwohl er absonderlich gekleidet ist,
spielte er für sie auf dem Cembalo, nur für sie, sonst ist ja niemand
lebendig in diesem Museum. Der Mann, an den sie schrieb, ist tot –
wird Zeit, ihn zu vergessen – auch der Künstler, der sie gemalt hat, ist tot.
Sie selbst sollte tot sein, aber sie hat ein Ohr für die Musik
und ein Herz, das die Treppe des Gardner Museums hinaufläuft
mit einem Mann, den sie erst seit wenigen Minuten kennt, doch
tatsächlich fühlt es sich an wie ihr ganzes Leben. Und als der Dieb
ihr das Messer gibt und sagt: Du schneidest die Gemälde
aus den Rahmen und rollst sie auf, da tut sie’s. Als er sagt:
Kleb noch einen Streifen Isolierband über den Mund des Wächters,
damit er aufhört über Ästhetik zu schwadronieren, gehorcht sie.
Und als der Dieb sie ans Lenkrad setzt und sagt: Fahr, Baby,
die Nacht gehört uns, da ist es das Briefschreibende Mädchen, das den
schwarzen Van auf die Auffahrt zum Storrow Drive Richtung Westen
und weiter zum Mass Pike lenkt, es ist das Briefschreibende Mädchen,
das mit 80 Meilen die Stunde Richtung Westen fährt, in ein Land,
das noch gar nicht entdeckt ist, mit einem gesuchten Kriminellen,
einem Van voll Alter Meister und ohne Ziel, aber dem
Briefschreibenden Mädchen macht das nichts aus, sie hat ein Bier
in der freien Hand, sie ist unterwegs, sie ist lebendig und sie ist verliebt.
(Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke)
17. September 2014 15:07In Schlaglöchern gefunden:
Löffel von einem Pommerntreck.
Ich kann das Vergessen erkunden
in lauter schlammigem Dreck,
und die Scherben aus klarem Glas
sind Kristalle, die ich in Taschen trage.
Betrunkene warfen Flaschen ins Gras,
Birnenbrand erster Nachkriegstage.
Der Schädel am Weg ist nicht so alt.
Da sind von vorsichtigen Tieren Fährten.
Wird es Ende Mai über Nacht wieder kalt,
suchen sich Füchse die wilden Gärten.
*
27. September 2014 11:43