Hendrik Rost

Scheinfrucht

Leise ist ein Apfel
in deiner Hand eingeschlafen,

die viele Arbeit
an der Illusion. Jetzt trägt sie Früchte.

2. September 2014 12:08










Andreas H. Drescher

Nasenscheidewand

Nach Estland –

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und zweimal einmal klicken.

4. September 2014 11:00










Andreas Louis Seyerlein

~

6.55 – Die Nach­rich­ten­agen­tur Asso­cia­ted Press ver­öf­fent­lichte ges­tern eine bemer­kens­werte Foto­gra­fie. Men­schen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens dar­auf war­ten, bedient zu wer­den, oder Waren, die sie in Plas­tik­beu­teln mit sich füh­ren, bezah­len zu dür­fen. Es han­delt sich bei die­sem Laden offen­sicht­lich um ein Lebens­mit­tel­ge­schäft, das von künst­li­chem Licht hell aus­ge­leuch­tet wird. Im Hin­ter­grund, rech­ter Hand, sind Regale zu erken­nen, in wel­chen sich Sekt– und Wein­fla­schen anein­an­der­rei­hen, gleich dar­un­ter eine Tief­kühl­truhe, in der sich Spei­se­eis befin­den könnte, und lin­ker Hand, an der Wand hin­ter der Kasse, wei­tere Regale, Zeit­schrif­ten, Spi­ri­tuo­sen, Scho­ko­lade, Bon­bon­tü­ten. Es ist alles sehr schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkenn­bare kyril­li­sche Schrift­zei­chen zu über­se­hen, in einem Vor­ort der Stadt Paris befin­den oder irgendwo in einem klei­nen Städt­chen im Nor­den Schwe­dens, nahe der Stadt Rom oder im Zen­trum Lis­sa­bons. Es ist Abend ver­mut­lich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse war­tet, einen Ano­rak trägt von hell­blauer Farbe und feine dunkle Hosen. Ihre Schuhe sind nicht zu erken­nen, aber die Schuhe der Män­ner, die gleich hinter ihr in der Reihe der Wartenden vor der Kasse stehen, es sind vier Per­so­nen ver­mut­lich mitt­le­ren Alters. Sie tra­gen schwarze, geschmei­dig wir­kende Mili­tär­stie­fel, aus­ser­dem Uni­for­men von dun­kel­grü­ner Farbe, runde Schutz­helme, über wel­chen sich ebenso dun­kel­grüne Tarn­stoffe span­nen, wei­ter­hin Wes­ten mit aller­lei Kampf­werk­zeu­gen, der ein oder andere der Män­ner je eine Sturm­wind­brille, Knie­schüt­zer, Hand­schuhe. Die Gesich­ter der Män­ner sind der­art ver­mummt, dass nur ihre Augen wahr­zu­neh­men sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wan­gen, nicht ihre Mün­der, sie wir­ken kampf­be­reit. Einer der Män­ner schaut miss­trau­isch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genom­men hat, ein Blick kurz vor Gewalt­tä­tig­keit. – Jeder Blick hin­ter einer Maske her­vor ist ein selt­sa­mer Blick. – Ein ande­rer der Män­ner hält sei­nen geöffneten Geld­beu­tel in der Hand. Die Männer wir­ken alle so, als hät­ten sie sich gerade von einem Kriegs­ge­sche­hen ent­fernt oder nur eine Pause ein­ge­legt, ehe es wei­ter gehen kann jen­seits die­ses Bil­des, welches Erstau­nen oder kühle Furcht aus­zu­lö­sen ver­mag. Ich stelle mir vor, ihre Sturm­ge­wehre lehn­ten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich her­aus­tre­ten an die fri­sche Luft, wenn wir den Blick zum Him­mel heben, wür­den wir die Sterne über Sim­fe­ro­pol erken­nen, oder über Jalta, über Sudak, über einer Landstraße, die im April 1986 gut informierte Menschen der sowjetischen Nomenklatura in Bussen aus dem Norden südwärts führte, während zur gleichen Zeit Fahrzeuge der Landstreitkräfte Tausende Ahnungsloser nordwärts in die entsetzlichen Strahlungsfelder Tschernobyls transportierten. – stop / koffertext : updated – ich habe diese aufnahme mit eigenen augen gesehen.

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6. September 2014 19:35










Hans Thill

… von den Wäldern …

von den Samstagswäldern bei
Worms
haben wir noch die Rinde über den Würmern und
eine Pilzsubstanz, welche die Wörter leuchten
macht in der Matrix eines Baums, der
Schatten

sucht und dabei stirbt. Von den hellen Wäldern
haben wir noch die Pyramiden von Paris, die Nüsse, schwarz
in den Schalen und die Bienen, denen wir
seit Vorzeiten die Nahrung stehlen. Von den
roten

Porphyrwäldern haben wir noch die Schlangen,
reglos auf dem winterharten Asphalt. Von den dornigen Wäldern
haben wir noch Reste eines grünen Sirups
mit trügerischem Geschmack, als könnten
uns Haare

10. September 2014 09:54










Christine Kappe

Zustellversuch 9

Haus Tanneneck. Mein Kuli ist leer, deswegen muss ich mit dem Einschreiben bis an die Haustür, hätte sonst n Kreuz gemacht, dass ich niemanden angetroffen habe und das ganze in den amerikanischen Postkasten neben dem Tor geworfen. Ausgerechnet hier, wo ich durch einen großen Vorgarten muss, mit dem Wissen um die Existenz eines bissigen Hundes! Die Adressatin nimmt das Einschreiben und macht gleich wieder die Tür zu. Ich kann gerade noch hinterherrufen, ob sie einen Kuli hat, während der Hund in den Tiefen des Hauses wild bellt. Die Frau lässt auf sich warten, hat sie’s überhaupt gehört? Oh je: die Postzustellurkunde hat sie mitgenommen… Im Türschlitz die Zeitung noch von heut früh. Im gleißenden Sonnenlicht lese ich: Die ukrainische Führung erlaubte unterdessen der Polizei im Konfliktgebiet, auch ohne Waffen zu schießen. «Dies erhöht die Sicherheit der Milz.» Ich überlege, wo die Milz sitzt, aber ich komm nicht drauf. Viel zu wenig weiß man… Da öffnet sie die Tür wieder, einen kleinen Spalt und sagt zur Entschuldigung: „Ich will nur nicht, dass der Hund wegläuft. MUSS ich unterschreiben? – Ich habe ALLES bezahlt!“

12. September 2014 12:46










Christine Langer

Nachtvogel

Während die Nacht sich aufplustert
In deinen Augen
Schwebt der Mond durchs Zimmer
Umkreist den schrillen Schrei der Wände

Die Wolken in den Laken
Balancieren auf unserer Haut
Reißen die Fenster auf
Scheiteln einen Stern

13. September 2014 11:15










Christian Lorenz Müller

Bei Debrecen

Zwei Wassertürme steigen auf,
Heißluftballons an Stahlseilen,
an der Schnur eines Kindes,
das im Maisfeld steht.
Die Welt hat kein Gewicht
bis die Schule wieder anfängt,
bis das rosa Kleid in den Dreck fällt
oder der Vater betrunken zuschlägt;
die Welt hat kein Gewicht,
sieh nur, wie der Mais
dem Himmelsblau entgegenwächst.

14. September 2014 12:01










Andreas H. Drescher

Späte Adonislibelle

Ihr Scharlach-Körper
Aus den Binsen
An den Rand des Gartentischs

Ist das ein Blick?

Als ich lächle ihr Handstand ihr
Auffliegen Kaum eine eine Handbreit steht er mir vor Augen
Ihr Scharlach-Körper Schon ist er f

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17. September 2014 13:40










Mathias Jeschke

„Briefschreibendes Mädchen“ von William Carpenter

Ein Dieb fährt in seinem schwarzen Van zum Museum. Der Nacht-
wächter sagt: Sorry, geschlossen. Sie müssen morgen wiederkommen.
Der Dieb legt die Klinge seines Messers an das Ohr des Wächters.
Ich hab nicht den ganzen Abend Zeit, sagt er, ich hätt gern ‘n bisschen Kunst.
Kunst ist zum Vergnügen da, sagt der Wächter, und nicht zum Besitzen.
Sie können nicht irgendwas… – da fährt ihm das Isolierband über den Mund.
Keine Sorge, sagt der Dieb, wir meinen beide das gleiche.
Er findet die Niederländischen Meister und geht auf einen Vermeer zu:
„Briefschreibendes Mädchen“. Der Dieb weiß, was er tut.
Er ist ein Dr. phil. Er schneidet die Leinwand vom Rahmen,
angefangen an der Ecke mit den Salatschüsseln bis hinunter
zum Sonnenlichtquadrat auf dem schwarz-weiß gefliesten Boden.
Das Mädchen hört es gar nicht, so sehr ist sie in das Schreiben
ihres Briefes versunken. Sie bemerkt ihn gar nicht, bis es zu spät ist.
Da ist er schon im Bild. Und schon sitzt er am Cembalo.
Er spielt die g moll-Sonate von Domenico Scarlatti,
die einst ihr Herz zum Pochen brachte bis das Cembalo verklungen war
und es dann rasen ließ in Erwartung der wieder einsetzenden Musik.
Sie arbeitete dreihundertzwanzig Jahre lang an diesem Brief.
Jetzt ist ein Mann da, und obwohl er absonderlich gekleidet ist,
spielte er für sie auf dem Cembalo, nur für sie, sonst ist ja niemand
lebendig in diesem Museum. Der Mann, an den sie schrieb, ist tot –
wird Zeit, ihn zu vergessen – auch der Künstler, der sie gemalt hat, ist tot.
Sie selbst sollte tot sein, aber sie hat ein Ohr für die Musik
und ein Herz, das die Treppe des Gardner Museums hinaufläuft
mit einem Mann, den sie erst seit wenigen Minuten kennt, doch
tatsächlich fühlt es sich an wie ihr ganzes Leben. Und als der Dieb
ihr das Messer gibt und sagt: Du schneidest die Gemälde
aus den Rahmen und rollst sie auf, da tut sie’s. Als er sagt:
Kleb noch einen Streifen Isolierband über den Mund des Wächters,
damit er aufhört über Ästhetik zu schwadronieren, gehorcht sie.
Und als der Dieb sie ans Lenkrad setzt und sagt: Fahr, Baby,
die Nacht gehört uns, da ist es das Briefschreibende Mädchen, das den
schwarzen Van auf die Auffahrt zum Storrow Drive Richtung Westen
und weiter zum Mass Pike lenkt, es ist das Briefschreibende Mädchen,
das mit 80 Meilen die Stunde Richtung Westen fährt, in ein Land,
das noch gar nicht entdeckt ist, mit einem gesuchten Kriminellen,
einem Van voll Alter Meister und ohne Ziel, aber dem
Briefschreibenden Mädchen macht das nichts aus, sie hat ein Bier
in der freien Hand, sie ist unterwegs, sie ist lebendig und sie ist verliebt.

(Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke)

17. September 2014 15:07










Mirko Bonné

Alter Landweg bei Bergedorf

In Schlaglöchern gefunden:
Löffel von einem Pommerntreck.
Ich kann das Vergessen erkunden
in lauter schlammigem Dreck,

und die Scherben aus klarem Glas
sind Kristalle, die ich in Taschen trage.
Betrunkene warfen Flaschen ins Gras,
Birnenbrand erster Nachkriegstage.

Der Schädel am Weg ist nicht so alt.
Da sind von vorsichtigen Tieren Fährten.
Wird es Ende Mai über Nacht wieder kalt,
suchen sich Füchse die wilden Gärten.

*

27. September 2014 11:43