Mathias Jeschke
„Briefschreibendes Mädchen“ von William Carpenter
Ein Dieb fährt in seinem schwarzen Van zum Museum. Der Nacht-
wächter sagt: Sorry, geschlossen. Sie müssen morgen wiederkommen.
Der Dieb legt die Klinge seines Messers an das Ohr des Wächters.
Ich hab nicht den ganzen Abend Zeit, sagt er, ich hätt gern ‘n bisschen Kunst.
Kunst ist zum Vergnügen da, sagt der Wächter, und nicht zum Besitzen.
Sie können nicht irgendwas… – da fährt ihm das Isolierband über den Mund.
Keine Sorge, sagt der Dieb, wir meinen beide das gleiche.
Er findet die Niederländischen Meister und geht auf einen Vermeer zu:
„Briefschreibendes Mädchen“. Der Dieb weiß, was er tut.
Er ist ein Dr. phil. Er schneidet die Leinwand vom Rahmen,
angefangen an der Ecke mit den Salatschüsseln bis hinunter
zum Sonnenlichtquadrat auf dem schwarz-weiß gefliesten Boden.
Das Mädchen hört es gar nicht, so sehr ist sie in das Schreiben
ihres Briefes versunken. Sie bemerkt ihn gar nicht, bis es zu spät ist.
Da ist er schon im Bild. Und schon sitzt er am Cembalo.
Er spielt die g moll-Sonate von Domenico Scarlatti,
die einst ihr Herz zum Pochen brachte bis das Cembalo verklungen war
und es dann rasen ließ in Erwartung der wieder einsetzenden Musik.
Sie arbeitete dreihundertzwanzig Jahre lang an diesem Brief.
Jetzt ist ein Mann da, und obwohl er absonderlich gekleidet ist,
spielte er für sie auf dem Cembalo, nur für sie, sonst ist ja niemand
lebendig in diesem Museum. Der Mann, an den sie schrieb, ist tot –
wird Zeit, ihn zu vergessen – auch der Künstler, der sie gemalt hat, ist tot.
Sie selbst sollte tot sein, aber sie hat ein Ohr für die Musik
und ein Herz, das die Treppe des Gardner Museums hinaufläuft
mit einem Mann, den sie erst seit wenigen Minuten kennt, doch
tatsächlich fühlt es sich an wie ihr ganzes Leben. Und als der Dieb
ihr das Messer gibt und sagt: Du schneidest die Gemälde
aus den Rahmen und rollst sie auf, da tut sie’s. Als er sagt:
Kleb noch einen Streifen Isolierband über den Mund des Wächters,
damit er aufhört über Ästhetik zu schwadronieren, gehorcht sie.
Und als der Dieb sie ans Lenkrad setzt und sagt: Fahr, Baby,
die Nacht gehört uns, da ist es das Briefschreibende Mädchen, das den
schwarzen Van auf die Auffahrt zum Storrow Drive Richtung Westen
und weiter zum Mass Pike lenkt, es ist das Briefschreibende Mädchen,
das mit 80 Meilen die Stunde Richtung Westen fährt, in ein Land,
das noch gar nicht entdeckt ist, mit einem gesuchten Kriminellen,
einem Van voll Alter Meister und ohne Ziel, aber dem
Briefschreibenden Mädchen macht das nichts aus, sie hat ein Bier
in der freien Hand, sie ist unterwegs, sie ist lebendig und sie ist verliebt.
(Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke)
17. September 2014 15:07